Ein zwei Jahre nach dem Drogenvorfall erschienener Spiegel-Online-Artikel [21] verriet dann, dass der Projektleiter aus dem ungrünen Institut seine zu Hause hergestellten Drogen an Freunden und Bekannten testete und dabei deren Puls und Blutdruck kontrollierte. Das absonderliche Vorgehen wird in besagtem Zeitungsartikel als Forscherdrang bezeichnet. Vor Gericht behauptete der Verteidiger, „sein Mandant habe nur seine wissenschaftlichen Ambitionen verfolgt“ und mein einstmaliger Projektleiter fügte hinzu, dass er probierte, wie die Substanzen der Designerdroge Ecstasy für psychotherapeutische Zwecke nutzbar wären. Letztendlich wurde er lediglich zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 5000 Euro verurteilt, obwohl in älteren Zeitungsartikeln, die unmittelbar nach seiner Verhaftung erschienen waren, mit einer Haftstrafe von bis zu 15 Jahren gerechnet worden war. Immerhin hatte er die Drogen wenigstens zum Teil über Zwischenhändler an Drogenabhängige verkauft, so hieß es damals [22].
I.V Das Institut des Monsterprofessors
Nach nur einem Monat Arbeitslosigkeit verfügte ich über einen neuen Arbeitsvertrag, auch wenn dieser erst einmal nur für eine Dauer eines Jahres galt. Die Freude und der Stolz ließen mich meinen Schock von der ersten postdoktoralen Anstellung vergessen, denn eine neue winkte mir verheißungsvoll zu. Sehr verlockend wirkte auch die wieder geschrumpfte Entfernung von unserer Wohnung zum Arbeitsort, welche ich in einer halbstündigen Radfahrroute statt der bisherigen einstündigen Autofahrt zurücklegen konnte. Wegen der zunächst nur einjährigen Vertragslaufzeit bastelte ich noch während meiner Arbeitslosigkeit als fleißiger, pflichtbewusster Wissenschaftler einen zwanzigseitigen Projektantrag zusammen, der mir eine Habilitationsfinanzierung über mehrere Jahre einbringen sollte. Zu diesem Zweck musste ich mich erneut in ein mir noch unbekanntes Thema zur Funktion spezifischer Proteinstrukturen einlesen und fachrelevante Literatur zusammentragen. Es gab gerade ein frisch ausgeschriebenes Programm der Universität für einige wenige Habilitationsstellen, um welche große Konkurrenz herrschte. Entschließt man sich, eine Habilitation in Angriff zu nehmen, tritt man in den nächsten Qualifikationsschritt über die Promotion hinaus. Während dieser fünf bis sechs Jahre währenden Zeitspanne etabliert man ein eigenes Forschungsgebiet und führt Lehrveranstaltungen für Studenten durch. Damit dient sie dazu, zu einer Hochschullehrerlaufbahn, also zu einer Professur, zu befähigen. Beginnt man mit einer Habilitation, garantiert dies keine Arbeitsplatzsicherheit, ganz im Gegenteil. Doch die nächste befristete Wissenschaftleranstellung winkt. Hoffnungsvoll wartet man darauf. Mein Antrag wurde von der Auswahlkommission abgelehnt; zum Glück, denn bald entpuppte sich meine neue Arbeitsstelle als Horrorkabinett. Im Januar startete ich mit voller Motivation am neuen Arbeitsplatz. Meine Hauptaufgabe bestand wiederum in der Betreuung und Bedienung eines brummenden Großgerätes. Die zahlreichen Diplomanden und Doktoranden der Arbeitsgruppe brachten mir ihre präparierten Proben, welche ich am Gerät vermessen sollte. Hier bestand von vornherein eine ungünstige Konstellation, denn die Doktoranden verfügten bezüglich ihrer Thematiken über längere Erfahrung als ich in meiner Rolle als Neueinsteiger in die mir wiederum noch weitgehend unbekannten Fachdetails. Obwohl ich dieselbe Messgerätekombination während meiner vorangegangenen Postdocphase am Institut des Drogenherstellers betrieben hatte, waren die Aufgabenstellung und die Beschaffenheit der Proben und der zu analysierenden Substanzen derartig anders, dass ich nur vereinzelt auf meine Errungenschaften zurückgreifen konnte. Ein hochkomplexes Gerätesystem bietet so viele Einstellungs- und Anwendungsmöglichkeiten, dass man in einem knappen halben Jahr bei weitem nicht alles beherrschen kann, zumal dann, wenn man in Eigenregie am Gerät bastelte. Mein neuer Vorgesetzter erwartete jedoch von mir, sofort mit erfolgreichen Messungen zu starten. Seine Arbeitsgruppe suchte seit längerem spezielle Bindungsstellen an Biomolekülen, und ich gewann den Eindruck, als hätten sie noch keine gefunden. Oftmals detektierte ich in den mir übergebenen Proben kaum verwertbare Signale, was das Auffinden etwaiger Bindungsstellen mit Hilfe eines vielfältig anklickbaren, das heißt, eine schier unendliche Auswahl an Einstellungen bietenden Auswerteprogrammes enorm erschwerte. Die winzigen Volumina der in die Messtabletts pipettierten Probelösungen trockneten oft schon während der Messreihen ein, weshalb nicht genügend Probevolumen in das Gerät gelangte. Die Problematik war schwierig und für mich als nun schon mehrere Jahre tätige Wissenschaftlerin teilweise undurchschaubar. Die Ursprungsproben, aus denen die Diplomanden und Doktoranden die Biomoleküle präparierten, stammten aus dem Schlachthof. Es waren Kalbshirne. Sie brachten keine gute Energie ins Haus, an der es so stark mangelte in allen Ecken der komplett verkunststofften und vermetallten Büros und Laborräume des vielgepriesenen, teuren Neubaus. Von Natur auch hier wieder keine Spur. Nicht mal vorm Fenster. Das Computerbüro, in dem sich die Schreibtische der Diplomanden und Doktoranden sowie der meinige befanden, besaß nur Fenster zum verglasten Innenhof des Gebäudes, weshalb Tageslicht fast gar nicht herein schien. Konnten in einem menschlichen Wesen, das sich Tag für Tag darinnen aufhielt, gute Gedanken gedeihen? Auch der Pausenraum war fensterlos. In einer Mikrowelle erwärmten die Mitarbeiter Fertiggerichte, die sie sich in einer benachbarten Kaufhalle besorgten. Moderne Bauwerke entsprechen Gefängnissen, die zwar das physisch-materielle Existenzminimum absichern, psychische Entfaltung, Gesundheit und geistige Entwicklung jedoch unterdrücken [13]. Naturwissenschaft sollte betrieben werden. Die Mitarbeiter waren Biochemiker, Chemiker und Biologen. Aber die Natur fehlte. Sie war komplett verschwunden. Nicht einmal einen einzigen winzigen Holzgegenstand konnte ich ausfindig machen. Welche Erkenntnis über die Natur erhoffte man sich hier zu finden, mit all der stromverbrauchenden Technik, den Chemikalien und den Geweben vom Schlachthof? „Man kann schwer begreifen, dass ein Mensch hier nicht sterben muss, dass er nicht vor Sehnsucht zum Vogel wird, ihm keine Flügel wachsen, damit er sich aufschwinge und dahin fliege, wo Luft und Sonne sind. Einige Menschen haben wohl viel Sehnsucht nach Wald und Sonne und viel Licht; aber dies wird allgemein als eine Krankheit angesehen, die man in sich niederkämpfen muss.“ [23]
Meine Haupttätigkeit spielte sich an diversen Computerbildschirmen ab, in die ich hinein starrte und auf verwertbare Strichhöhen (in wissenschaftlicher Sprache: Signalintensitäten) wartete. Meine rechte Hand umklammerte die verkabelte Kunststoffmaus: klick da, klick dort. Ab und zu stellte ich ein paar frische Lösungen für die Trennanlage her, welche ausnahmslos giftig und umweltschädlich waren und in energie- und rohstoffintensiven Verfahren von Chemiekonzernen produziert worden waren. Lebendige Naturwissenschaft: eine Wohltat für Körper, Geist und Seele. In dieser künstlichen Welt schlich mein neuer Professor, den ich im Folgenden wegen seiner für mich unerträglichen, monströsen Art kurz „MoP“ (Monsterprofessor) nennen möchte, um mich herum und verfolgte alle meine Handlungen. Aber nicht etwa, dass er mir ein einziges Mal eine Hilfestellung oder einen Hinweis gab. Nein. In aggressiver Aufdringlichkeit versuchte er, mich bloß zu stellen und mir Fehler zu unterstellen. Ich glaubte damals immer noch, dass man von einem Professor, dem leuchtenden Gipfel unserer Forschungs- und Bildungslandschaft, etwas lernen konnte. Aber man konnte nicht einmal ein wissenschaftliches Problem diskutieren. Seine Aggressivität nahm schon in den ersten Wochen rasant an Fahrt auf. Einmal holte er mich vom Mittagessen weg, wo ich bei meiner soeben erwärmten Mahlzeit im Kreise der Diplomanden und Doktoranden in lustigem Geplauder saß. Ich sollte unbedingt augenblicklich etwas am Gerät einstellen. Als ich mich wehrte,