"Ich habe mich in der Arbeit vergraben, damals. Meine Frau war Erbin einer kleinen Reederei, die ich dann übernommen hatte. Ich war erfolgreich damit, sehr erfolgreich. Aber davon später. Ich hatte mancherlei Informationen über dich, die ganze Zeit. Und ich habe damals überlegt, ob ich dich zu mir holen sollte. Doch da gab es Bedenken: Du gehörtest deiner Mutter, ich hatte nun wirklich kein Recht, ihr den Sohn wegzunehmen. Und zu ihr gab es für mich keinen Weg. Und du hattest deinen Platz dort, du hattest eine Rolle, davon habe ich manches erfahren. Was ich erkannte, war dies: Du mußtest diese Rolle zu Ende spielen, es war dein Leben, deine Entwicklung, dein Weg. Ich hatte kein Recht, ihn zu zerstören oder auch nur zu beeinflussen. Dafür war es zu spät. Mir blieb nur, unerkannt zuzuschauen, auch wenn es mir zunehmend schwerer fiel - das magst du nun glauben oder nicht."
Als er einen Augenblick verstummte, wandte sich Thessi ihm zu. Zum ersten Mal blickte er ihm direkt ins Gesicht: "Was weißt du alles von mir?" Der Mann neben ihm, der sein Vater war, lächelte ein ganz klein wenig: "Nicht so viel, wie du befürchtest. Nur so viel, wie ein Außenstehender über jemand erfährt, der in solch überschaubaren Verhältnissen lebt, wie sie deine Heimatstadt nun einmal aufweist. Und doch soviel, daß ich ein Bild von dir habe. Aber darüber laß uns später einmal reden, wenn wir uns näher kennen sollten. Denn das alles ist jetzt auch für dich ein abgeschlossenes Kapitel, denke ich. Und weil du ein neues Kapitel anfängst, anfangen mußt, habe ich mich zu diesem Schritt entschlossen. Das war mir klar geworden: Wenn ich jetzt nicht handle, wird es unweigerlich zu spät sein. Trotz allem, was in der Vergangenheit geschehen - oder nicht geschehen ist: Du bist mein Sohn, und du hast ein Recht darauf, deinen Vater kennenzulernen. Und noch eins: Du bist mein Erbe, der einzige, den ich habe. Und du hast ein Recht auf dieses Erbe, wenn du es nicht ausschlägst. Auch das steht dir frei. Aber du sollst wissen: Es gibt ein Testament, zu deinen Gunsten. Laß mich dir darum ein Angebot machen: Ich kann dir ein Studium finanzieren, wenn du das möchtest - was auch immer es sein mag. Ich kann dir auch einen Platz in meinem Unternehmen anbieten, damit du lernend hineinwächst in das, was dir einmal gehören soll. Du mußt dich jetzt nicht entscheiden. Du solltest dir damit Zeit lassen. Und du kannst dich auch gegen mich entscheiden, ich könnte das verstehen, auch wenn es für mich bitter wäre. Aber auch das solltest du in Ruhe bedenken."
Wieder dehnte sich eine Pause. Es stimmte: Thessi, der sonst so rasch entschlossene, auf seine Vorteile bedachte, seinen hochfahrenden Träumen verpflichtete, er wußte nicht, was er antworten sollte. Er mußte nachdenken, über sich - und über diesen Mann, der da neben ihm saß. Er mußte abwägen, Zeit gewinnen, Sicherheit gewinnen. Sein Vater unterbrach seine Gedanken: "Ich werde jetzt gehen. Ich werde dich allein lassen mit dem, was du heute erfahren hast. Ich will keinen Einfluß nehmen auf deine Entscheidung. Ich bitte dich nur um eins: Laß mich wissen, wie du dich entschieden hast. Ich werde in einer Woche, zur gleichen Zeit, wieder hier sein und auf dich warten. Und ich hoffe, ich hoffe wirklich, daß wir uns dann wiedersehen." Er stand auf und trat an die Brüstung, schaute einen Augenblick lang hinunter ins Wasser. Dann wandte er sich um: "Leb wohl, mein Junge." Er war schon einige Schritte gegangen, da blieb er plötzlich stehen und blickte zu Thessi zurück, der reglos auf der Bank saß. "Ach ja, was ich dir noch gar nicht verraten habe: Ich heiße Gerhard Eigen." Er nickte noch einmal zur Bank hinüber, hob fast unmerklich eine Hand wie zu einem Gruß und schritt die Stufen hinauf zur Terrasse des Pavillons, ging zwischen den aufgereihten Tischen hindurch und verschwand im Inneren, ohne zurückzublicken.
Thessi verfolgte ihn mit den Augen, dann wanderte sein Blick wieder auf die Wasserfläche, auf die Möwen und ein paar Schwäne, die an der Anlegestelle im Kreis ruderten, auf den Alsterdampfer, der sich dem Ufer näherte, die Menschen, die auf ihn warteten, die Spaziergänger, die die Promenade heraufkamen. Nach einer Weile erhob er sich, griff nach seinem Rucksack, warf ihn über den Rücken und ging den Promenadenweg entlang Richtung Bahnhof. Auf der Heimfahrt blieb sein Buch geschlossen; er hätte sich nicht konzentrieren können. So schaute er hinaus auf die Häuser der Stadt, an denen der Zug vorbeifuhr, auf Hinterhöfe und Gärten und dann auf die weiten Felder des flachen Landes, das sich bis hin zur Nordsee erstreckte, irgendwo dort unter der niedrigstehenden Sonne, in unsichtbarer Ferne, bis der Zug nach Osten abbog.
Die Entscheidung
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich habe damals meiner Mutter nicht erzählt, mit wem ich mich getroffen hatte. Es sollte mein Geheimnis bleiben, ganz allein meine Sache. Und außerdem: Es würde nur alte Wunden aufreißen, sie in einen schmerzlichen Zwiespalt bringen. Und es könnte auch zwischen uns beide einen Keil treiben. Wenn ich auch schon viele Jahre mein eigenes Leben lebte, an dem sie keinerlei Anteil, ja von dem sie wohl auch keinerlei Ahnung hatte - irgendetwas verband uns dennoch, und das wollte ich nicht zerreißen. Nein, es war auch für sie besser, wenn sie nichts erfährt. Vorerst jedenfalls.
Noch war ich mir selbst ja nicht im Klaren, wie ich reagieren sollte. Da war mein Stolz, und er sagte: Du hast nichts zu schaffen mit diesem Mann, der dich solange verleugnet hat. Du kannst auch ohne ihn deinen Weg gehen. Aber da war auch meine Neugier: Was weiß er tatsächlich von mir? Und was kann ich über ihn erfahren? Wissen ist Macht, und es wäre ganz sicher ein Vorteil für mich, seine Macht zu beschneiden und meine zu vergrößern. Macht über ihn zu bekommen, der so selbstsicher tat, der Sohn über den Vater, der Verratene über den Verräter - das war eine Versuchung. Und wenn dieses Wissen Verständnis wecken sollte, vielleicht sogar Vergebung? Dann soll es so sein, dann ist Großmut eine Tugend, zu der nur Helden fähig sein können.
Bald schlich sich noch eine Überlegung in mein Denken: Er hat vom Erbe gesprochen. Und steht es mir nicht zu, als Entschädigung für alles Unrecht, daß er meiner Mutter und mir angetan hat? Sein Sohn, der andere, der halbwegs ja auch mein Bruder war, ist tot. Ihn hatte ich nicht zu fürchten. Ich würde ihn auch so nicht fürchten. Ich hätte den Kampf aufgenommen mit dem Recht des Erstgeborenen, wäre es um den Nachlaß gegangen. Aber lieber war mir schon, daß es ihn nicht mehr gab. Schließlich kenne ich ihn nicht, und es wäre ja auch denkbar gewesen, daß ich in ihm tatsächlich einen Bruder entdeckt hätte - und nicht nur Abel, den Kain totschlagen muß mit seinem Anspruch auf die Vaterliebe.
Da war zudem sein Angebot. Es stimmte ja: Ich muß mich entschließen, was mein Zukunft betrifft. Die Zeit hier - in dieser engen Stadt zwischen den engen Moränenhügeln, in dieser muffigen, kleinbürgerlichen Welt, in die ich nicht passe mit meinen Träumen, meinem Streben - diese Zeit war abgelaufen. Das zumindest war jetzt beschlossene Sache: Ich werde diesen Ort verlassen. Was ich damals nicht wußte: Ich habe ihn auch nie wieder betreten. Doch - einmal noch: um meine Mutter zu begraben.
Es gab also eine Chance - nein, es gab sogar zwei: Es gab die verlockende Aussicht, einfach hinauszugehen in eine andere Welt, mir neues Wissen zu erschließen, mit Gleichgesinnten zu debattieren, zu forschen und zu lernen. Aber was ist eine Universität? Letztlich doch wieder eine Schule - mit Lehrenden, die alles besser wissen und meist doch nichts wirklich wissen, mit überfüllten Hörsälen, mit überlaufenen Seminaren und Laboren, mit Mengen von dumpf dahinlebenden, alles schluckenden Studierenden, die mich überall nur behinderten. Wollte ich das wirklich - nur um irgendwelcher Titel willen? Könnte das meine Fantasien stillen, meine Macht vergrößern?
Doch da war ja auch dieses andere Angebot: In der Reederei anzufangen, als was auch immer. Jedenfalls weit unten, aber