Über meine musikalische Leistung war eine Klassenkameradin sehr neidisch. Sie gehörte leistungsmäßig mit zu den besten Schülern, bekam aber in Musik keinen richtigen Ton hinter den anderen. Sie quälte sich zur Gesangsstunde, wie ich mich zum Sport.
Fast alle Schüler johlten, sowie sie zum Vorsingen aufgerufen wurde, und freuten sich tierisch auf dieses einmalige Klangerlebnis.
Warum wurde sie so erniedrigt? Warum wurden Schüler, die kein Talent besitzen, so gedemütigt?
Wer sportlich ist und gut zeichnen oder musizieren kann, hat eben angeborene Fähigkeiten. Manche Eltern haben aber in dieser Hinsicht nicht viel zu vererben.
Talent sollte deshalb nicht mit Zensuren bewertet werden. Es würde doch ausreichen, wenn im Zeugnis steht: Sie/Er hat sich erfolgreich/erfolglos bemüht und ist mit/ohne Talent gesegnet.
Wir hatten einen Englischlehrer, der stark sehbehindert war. Dieser hatte die Angewohnheit, sobald er schwatzende Geräusche hörte, sein großes Schlüsselbund in die vermeintliche Richtung zu schmettern. In seinem früheren Leben muss er Handballer gewesen sein, denn er hatte richtig Schwung im Wurf. Egal wohin er zielte, er traf oft den Falschen. Niemand hat ihm das untersagt, obwohl andere Lehrer und auch der Direktor davon wussten.
Warum wurde diese Körperverletzung geduldet?
Die Anwesenheit am Chemieunterricht hätte ich mir sparen können. Nur zwei Dinge habe ich begriffen, dass Chemie auch etwas mit Stoffen zu tun hat, die entweder explodieren können oder giftig sind. Da ich für mein weiteres Leben nicht plante, Bomben zu bauen oder jemanden ins Jenseits zu befördern, interessierte mich hier überhaupt nichts. Wenn ich die Chance gehabt hätte, ein Fach abzuwählen, dann wäre es auf jeden Fall Chemie gewesen. Das war damals jedoch nicht möglich, denn wir bekamen eine umfassende Allgemeinbildung vermittelt. Uns blieb somit erspart, dass wir erst beim Studium bemerken, dass wir gerade die nicht belegten Fächer hätten gut gebrauchen können. Es hatte also auch ein paar Vorteile, dass wir uns durch die gesamte Bandbreite des Lehrplanes durchquälen mussten.
Unsere Klassenbücher blieben in den Pausen auf dem Lehrertisch liegen. Einige pfiffige Schüler kamen nun auf die Idee, dass sie sich selbst doch ein paar gute Zensuren eintragen könnten. Gesagt – getan.
Fast niemand wollte vor den anderen als Feigling dastehen, und im Handumdrehen lag so mancher eine Note besser im Leistungsdurchschnitt.
Nicht, dass ich das nötig gehabt hätte, aber manche Taten der Mitschüler waren wahrscheinlich ansteckend.
„Bei dem fast blinden Englischlehrer”, dachte ich, „fällt das am wenigsten auf.“
Er schrieb die Zensuren sowieso irgendwohin, da war meine Tat schnell vollbracht.
Die Schüler, die sich nicht an dieser Straftat beteiligt hatten, wurden mit der Zeit neidisch und platzten bald über ihr Wissen. Irgendeiner machte den Anfang, schaffte sich Erleichterung und ging zum Direktor und verpetzte uns.
Nun wurde jeder Mittäter zusammengepfiffen. Es gab mächtigen Ärger.
Auch ich sollte die nicht erarbeiteten Zensuren zeigen, was mir schwer fiel, hatte ich mir beim Eintragen ins Klassenbuch ja Mühe gegeben, diese echt aussehen zu lassen. Ratlos zeigte ich auf irgendwelche Zahlen und der Direktor, ich kam aus dem Staunen nicht raus, sagte: „Das sieht man ganz deutlich!”
„HÄ??? Na, wenn Sie das so genau erkennen”, dachte ich und kicherte innerlich.
Der Direktor meinte es scheinbar gut mit mir, denn er bot mir einen Deal an. „Wenn du mir andere Schüler nennst, die sich auch selbst Zensuren eingetragen haben, bekommst du keine Strafe.”
Das fand ich irgendwie ungerecht und ich überlegte: „Erst werde ich zum Verrat angestiftet und soll dafür sowie für die Urkundenfälschung ungeschoren davonkommen. Somit würde ich ja für zwei Straftaten auch noch belohnt werden.”
Irgendetwas kam mir dabei spanisch vor und ich grübelte weiter: „Wenn das nun jedem Täter vorgeschlagen wird und alle auf den Deal eingehen würden, müsste ja nur der Allerletzte bestraft werden, denn er hätte das Pech, dass keiner mehr da ist, den er verraten könnte. Alle Petzen vor ihm wären ja auf den Deal eingegangen und würden straffrei ausgehen.”
Als ich meine Englischgesamtnote bearbeitete, war ich nur mit einer Freundin zusammen, die sich natürlich auch die eine oder andere Zensur dazuschrieb. Also hätte ich nur sie verraten können.
„Nein. Ich lasse lieber ordnungsgemäß die Bestrafung über mich ergehen”, sprach ich mir in Gedanken Mut zu und hoffte, durch meine Verschwiegenheit nicht die letzte Dumme zu sein.
Das blieb mir jedoch erspart, denn ALLE Beteiligten wurden beim Fahnenappell vor den versammelten Schülern angeklagt.
Mario stand neben mir, flüsterte kichernd die neuesten Witze und stupste mich dabei auch noch an. „Eh, Elke, kennste den schon?”
Angestrengt versuchte ich, ernst und ruhig zu bleiben und schuldbewusst zu gucken.
Dann kam der Hammer.
Der Direktor schilderte in allen Einzelheiten, wie wir diese Schandtat begangen haben.
Ich staunte und dachte: „Das klingt ja wie eine Anleitung zum Nachmachen.”
In der Reihe der Sünder stand auch Jutta, von der ich genau wusste, dass sie mich verpetzt hat. Das hat mir nämlich die Monika verraten, die das von Mario wusste.
„So viel zum angebotenen Deal des Direktors. Ich wusste doch, dass man dem nicht trauen kann.”
Und Jutta kann über meine Tat nur von der einen Freundin, mit der ich dabei allein war, informiert worden sein. Das musste ich enttäuscht feststellen.
Für mich war es eine Sache der Ehre, diese Freundin nicht anzuschwärzen. Sie war auch die Einzige, die nicht bestraft wurde, aber nur, weil ich meinen Mund hielt. Außerdem war sie die Tochter von der Lehrerin, bei der ich gleich im ersten Schuljahr ganz aus Versehen mal eine Stunde verpasst hatte. Die Frau hatte mir damals schon die Hölle heiß gemacht, und ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was sie mir antun würde, wenn ich ihre Tochter verraten hätte. Sie wäre doch überzeugt gewesen, dass ihr gut erzogenes Kind einen Verstoß gegen die Schulordnung niemals begehen würde.
Wem hätte man mehr geglaubt? Einer Lehrerin und guten Genossin der SED oder einer Schülerin, die zu kriminellen Handlungen neigt?
Meine Meinung sagte ich hier lieber auch nicht. Die hätte bestimmt niemand hören wollen.
Meine Eltern erfuhren natürlich auch davon. Bis heute haben sie mit mir nicht über diesen Vorfall gesprochen. Meine Mutter lag nur schluchzend in den Armen meines Vaters und rief: „Womit haben wir das verdient? Der hacke ich die Pfoten ab!”
Aber – ihr fiel zum Glück noch rechtzeitig ein, dass ich meine Pfoten noch brauche, um weiterhin fleißig alle Arbeiten im Haushalt zu erledigen. Schon wieder einmal hatte ich großes Glück gehabt.
Dass ich von meinen Eltern mehr als Haushälterin gehalten wurde, blieb auch den Nachbarn und Eltern meiner Freunde nicht verborgen. Mein fleißiges Tun zu Hause brachte mir bei denen den heimlichen Spitznamen „Aschenputtel” ein. Das tat ganz schön weh, als ich Jahre später davon erfuhr.
Meiner Mutter muss irgendwann doch einmal aufgefallen sein, dass bei uns nicht alles normal abläuft, denn sie gab mir einen heißen Tipp, wie ich meine Situation erträglicher machen könnte.
„Du würdest viel mehr bekommen, wenn du dem Vati ein bisschen um den Bart gehst”, sagte sie großmütig zu mir.
Das habe ich damals überhaupt nicht verstanden, denn er hatte gar keinen Bart.
Heute weiß ich, was sie meinte.
Ich