Gabriele lachte. „Stimmt auch wieder. Aber vielleicht erkundigt er sich nach dir. Ich würde es dir gönnen!“
Aber Max Kerner meldete sich nicht bei Irene und Carola erwähnte ihn auch mit keinem Wort bei ihrem nächsten Treffen. Wahrscheinlich hatte er sie längst vergessen. Schließlich hatten sie nur ein bisschen geplaudert, und vielleicht hatte er ja eine Partnerin. Irene führte sich diese sachlichen Gründe in den kommenden Wochen in Gedanken an, aber insgeheim war sie enttäuscht. Sie war nicht direkt auf eine Liebschaft aus, schon gar keine Affäre. Aber eine Bekanntschaft mit einem netten Herrn in ihrem Alter, mit dem man sich ab und zu treffen und essen gehen oder etwas ähnlich Schönes unternehmen konnte, hätte ihr gefallen.
Allerdings hatte sie weitaus dringendere Probleme als an Max zu denken. Sie versuchte zwar, beim Essen auf überflüssige Kalorien zu achten, aber im Büro war so viel zu tun, dass sie abends einfach Nervennahrung in Form von Schokolade und Keksen brauchte, um am folgenden Arbeitstag wieder funktionieren zu können. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, seit langer Zeit einmal wieder Weihnachtsplätzchen zu backen, aber zum einen hätte sie durch deren Verzehr wieder zugenommen, also versagte sie sie sich fast komplett.
Zum anderen war sie abends, wenn sie endlich nach Hause kam, so müde, dass sie sich schnell etwas Warmes briet, oft genug auch mit schlechtem Gewissen einfach eine Fertigpizza erwärmte oder einfach nur zwei Scheiben Brot mit Wurst und Gürkchen aß, wohl wissend, dass sie Kohlenhydrate abends eigentlich hätte meiden sollen wegen der Fettverbrennung. So lief sie die ganze Zeit über mit extrem schlechtem Gewissen umher, weil sie sich selbst schalt, nicht diszipliniert genug zu sein, um weniger und fettarm zu essen, das Rauchen einzuschränken oder besser, ganz damit aufzuhören, sich endlich in einem Fitnessstudio anzumelden, um etwas Sinnvolles für Figur und Gesundheit zu tun und generell eben leistungsfähiger und fitter zu werden.
Sie überhäufte sich gnadenlos mit Vorwürfen; die Vernunftstimme in ihrem Kopf nahm einen immer strengeren und sehr herablassenden Ton an. Die Bauchstimme, auf die sie eh meist hörte, flüsterte beschwörend auf sie ein, sich zwischendurch einmal etwas Gutes zu gönnen; schließlich sei das Leben schwierig genug, auch ohne sich ständig zu kasteien. Also futterte sie gesalzene Nüsse und Schokokekse, um ihre ganze Misere zu vergessen.
*
Es war noch zwei Wochen bis Weihnachten; sie hatte für ihre Mutter ein neues Nachthemd gekauft. Das war zwar nicht originell, aber sie wusste mit einem Geschenk sowieso nichts mehr anzufangen, und ein Nachthemd konnte sie immer gebrauchen.
Bei Sabine war sie sich nicht sicher. Sie kannte ihre Tochter nicht gut genug, um ihr etwas zu schenken, worüber sie sich wirklich freuen würde. Da fiel ihr mit einem Mal der Wellnessgutschein ein, den sie immer noch nicht eingelöst hatte und sie hatte auch nicht vor, es zu tun. Für Sabine wäre das vielleicht ein schönes Geschenk.
Ihre Tochter hatte angerufen und sie gefragt, ob sie nicht Lust hätte, über die Feiertage zu ihr und ihrem Mann Robert nach Kassel zu kommen. Irene hatte im Gegenzug gefragt, wer sich dann über die Feiertage um ihre Mutter kümmern sollte.
„Wenn du in Urlaub fährst, hat sie zwei Wochen lang auch keinen Besuch“, hatte Sabine argumentiert.
„Und jedes Mal, wenn ich dann zurückkomme, hatte sie wieder einen neuerlichen Alzheimerschub.“
Nein, über die Feiertage wegzufahren, war keine gute Idee. Irene wusste nicht, wie die Wetter- und Straßenverhältnisse sein würden, und sie musste sich dringend ein paar faule Tage auf der Couch gönnen, um etwas Kraft zu tanken für das neue Jahr. Ängstlich fragte sie sich, was es für sie bereithalten würde: die Kündigung aus irgendeinem fadenscheinigen Grund?
Also hatte Sabine nachgegeben. Robert und sie würden an Heiligabend zu Irene nach Speyer kommen, aber spätestens am zweiten Feiertag wieder fahren, da sie auch noch zu seinen Eltern fahren wollten. Ein Besuch bei „Oma Marga“ war auch eingeplant.
Kapitel 6: Advent, Advent, es brennt, es brennt!
Am dritten Adventssonntag saß Irene vormittags am Essraumtisch, einen Kugelschreiber in der Hand, ein leeres Blatt Papier vor sich. Drei rote Kerzen flackerten an ihrem Kranz, den sie aus Zeitmangel in diesem Jahr nicht selbst gebunden, sondern in einem Blumengeschäft auf der Maximilianstraße für teures Geld gekauft hatte. Die Kerzen steckten etwas schief auf den Zweigen, vier rote Pilze mit weißen Tupfern hingen traurig dazwischen, und die roten Schleifen mit den Goldrändern waren lieblos an den Kranz geklebt. Irene hatte zwei Zimtstangen und zwei Orangenscheiben an den Zweigen befestigt, damit sie wenigstens einen kleinen Beitrag zu dem Projekt Adventskranz beigetragen hatte. Aber selbst der schwache Zimtduft konnte keine heimelige Vorweihnachtsstimmung bei ihr erzeugen.
Draußen stürmten kalte Winde durch die Straßen, verfingen sich in den kahlen Ästen der Bäume, die stramm wie Soldaten am Rand des kleinen Spielplatzes am Ende der Straße standen. Sie wirbelten die letzten trockenen Herbstblätter durch die raue Luft und rüttelten an halb geschlossenen Fensterläden.
Irene überlegte, was sie an Weihnachten kochen sollte. Ein Braten mit Klößen schied aus. Es musste etwas sein, das nicht allzu fett und kalorienreich wäre. Aber etwas richtig Leckeres, das mit wenig Arbeitsaufwand zu kochen wäre, fiel ihr nicht ein. Sie konnte sich auch nicht wirklich auf dieses Thema konzentrieren, weil sie schon mit Unbehagen an den nächsten Tag dachte.
Ihr Chef hatte die Mitarbeiter praktisch zu einer Weihnachtsfeier gezwungen; er sah es als Muss an, dass alle daran teilnahmen, weil es „zum guten Betriebsklima einfach dazugehört“, wie er steif formuliert hatte. Als ob das „Klima“ in seiner Abteilung je gut gewesen wäre, seit er ihr vorstand.
Irene hatte in einem Restaurant für 18 Uhr einen Tisch für alle bestellen müssen. Das Essen wurde von der Firma übernommen – welch noble Geste, dachte Irene sarkastisch. Getränke mussten von den Mitarbeitern selbst gezahlt werden. Vielleicht hatte ihr Chef die Befürchtung, dass der Preis für die Getränke den des Essens übersteigen würde, weil sie sich den Alkohol aus lauter Frust nur so reinkippen würden. Verdenken könnte Irene es den anderen nicht, sie selbst würde sowieso nur Wasser trinken, weil sie ihr Auto dabei hatte.
Irgendwie würde sie diesen Abend überstehen müssen. Wie sich alle miteinander nett unterhalten sollten, wo die Atmosphäre im Büro unterkühlt war und jeder gegen jeden arbeitete, damit nur er selbst nicht derjenige war, der gekündigt wurde, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie seufzte. ‚Was bin ich froh, wenn der morgige Abend vorbei ist‘, dachte sie inbrünstig. Sie nahm sich jedenfalls vor, zu essen und danach unter irgendeinem Vorwand zu gehen. Sie wollte keine Minute länger als nötig bei Menschen bleiben, die sich das Jahr über nichts zu sagen hatten; und sich mit ihrem Chef zu unterhalten, war ihr definitiv kein Bedürfnis.
*
Sie war nicht die Einzige, der nicht wohl in ihrer Haut war. Zwar hatten alle etwas Nettes angezogen – Irene war mutig und hatte ihr neues Cocktailkleid gewählt, was ihr einige verwunderte und anerkennende Blicke, hauptsächlich von den männlichen Kollegen, einbrachte.
Aber keiner wagte es, sich unverkrampft zu geben, weil niemand wusste, was der Chef von ihnen erwartete oder wie er Dinge gegen sie verwenden würde, die sie vielleicht ausplauderten.
So entstand nach anfänglichem Schweigen eine gezwungene Konversation, die sich um unverfängliche, allgemeine Themen drehte. Keiner wollte sich eine Blöße geben, und an ihrem Tisch hätte man Eis gefrieren können, so unterkühlt war die Stimmung.
Sie hatte sich so weit wie möglich von Meinert entfernt hingesetzt, im Gegensatz zu Britta, die rechts neben ihm saß und mit der er sich ab und zu unterhielt. Irene verstand nichts davon, aber es war ihr auch egal. Falls die beiden planten, sie loszuwerden, damit Britta ihren Job bekam, würde sie das auch nicht verhindern können, wenn sie ihre Gespräche mithörte.
Meinert schlug Irene darin, einen schnellen Abgang zu machen. Er schaufelte Feldsalat und Lende mit Spätzle in sich hinein, als gelte es, einen imaginären Schnelligkeitsrekord aufzustellen. Dann bestellte er sich einen Espresso, trank ihn in einem Zug hinunter und stand auf. „Ich hoffe, Sie haben