Das mit Namen benannte
ist der Ursprung der zehntausend Dinge.
Aus diesem Grund betrachtet man das Namenlose, ohne Wünsche zu haben.
Verbunden mit Begehrlichkeiten betrachtet man nur Dinge der äußeren Welt.
Diese beiden Punkte gehören zusammen,
und doch werden sie unterschiedlich wahrgenommen.
Gemeinsam scheinen sie schwer zu verstehen zu sein.
Auch wenn wir forschen, bleibt das Ganze unergründlich.
Und doch bilden diese beiden Punkte
das Tor zu dem vielen Nichtsichtbaren.
1 | Das Geheimnis des Lebens
Seit vielen Jahrhunderten versucht die Menschheit die großen Rätsel dieser Welt zu lösen. Philosophen, Naturwissenschaftler, Mystiker und andere Gelehrte bemühen sich um Antworten, doch über die bedeutende Frage unserer Herkunft herrscht weiterhin Uneinigkeit. Gesicherte Erkenntnisse über unsere Entstehungsgeschichte, beweisbar und von allen akzeptiert, gibt es nicht. Aus diesem Grund bleibt es letztendlich jedem Menschen selbst überlassen, eigene Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu finden. Die interessanteste Frage lautet mit Sicherheit: »Gibt es eine höhere Ebene, die all diese Dinge – und auch mich – erschaffen hat?«
Laozi unternimmt den Versuch, auf diese und andere Fragen zu antworten. Nach seiner Auffassung hat unser Leben einen Ursprung. Wir kennen weder seinen Namen, noch können wir ihn beschreiben. Es ist, als wären wir blind. Wir spüren die Wärme des Feuers, doch mit unseren Augen können wir es nicht erblicken. Laozi geht davon aus, dass es einen Grund für unsere Existenz gibt. Dieser eine Urgrund hat Himmel und Erde, den grenzenlosen Kosmos, geschaffen. Aus ihm entstand die Welt der zehntausend Dinge. Die Welt der zehntausend Erscheinungen ist unsere Welt. Dabei ist dieser Begriff natürlich nur symbolisch zu verstehen; die Anzahl der Lebewesen, Pflanzen und Gegenstände ist unendlich vielfältig und groß. Laozi bezeichnet die namenlose Quelle allen Lebens als das DAO. Mit dem eigenständigen Wort DAO versucht der Meister, unsere Herkunft präzise und auf neue Weise zu beschreiben.
Das DAO ist unsichtbar. Hingegen gut sichtbar sind alle Dinge der irdischen Welt. Ein Teil der Menschheit schätzt daher das diesseitige Leben als besonders wertvoll ein. Die individuelle Lebensgestaltung ist wichtig. Freundschaften, die eigene Familie, der Beruf, körperliche Fitness und wirtschaftliche Erfolge bilden die zentralen Lebensthemen. Eine andere Gruppe fühlt sich zu dem Unbekannten hingezogen und beschäftigt sich mehr mit philosophischen Fragestellungen. Zu den wesentlichen Lebensinhalten zählen für sie die Suche nach dem Sinn des Lebens und ihr persönlicher Glaube. An zentraler Stelle, schon in den ersten Zeilen des Daodejing, weist uns Meister Laozi darauf hin, dass eine Trennung zwischen dem alltäglichen Leben und dem Transzendenten wenig hilfreich ist. Nur über das Leben im Hier und Jetzt können wir mehr und Bedeutsames über uns selbst in Erfahrung bringen. Gleichzeitig benötigen wir die Bereitschaft, uns auf die Tiefen unseres eigenen Seins einzulassen, um umfassende Antworten über das Leben erhalten zu können. Es hat für Laozi keinen Sinn, sich vorzustellen, dass nur eine der beiden Seiten zu der Gestaltung unseres Lebens beiträgt. Wenn ein Teil des Ganzen größere Bedeutung als das Gesamte hätte, welche Logik sollte dahinterstehen? Welche Seite des Lebens soll der Mensch ignorieren und fallenlassen? Die sichtbaren und die nicht sichtbaren Aspekte des Lebens können nur zusammen gelebt und wahrgenommen werden.
Die Suche nach Erkenntnis ist für jeden Menschen eine sehr schöne und erfüllende Erfahrung. Lass auch du dich auf das Abenteuer deines Lebens ein und lebe es ganz!
Die sichtbare und die unsichtbare Welt gehören zusammen.
2 | Eine Einheit bilden
Wir erkennen Gutes nur als gut,
weil es auch Böses gibt.
Wir halten Dinge für schön,
weil wir andere Dinge für hässlich halten.
Diese Zweiheit bildet eine Einheit.
So ist es auch mit dem Leben.
Das Leben und das Nichtsein gehören zusammen.
Das Schwierige entsteht aus dem Leichten.
Lang und Kurz, Hoch und Niedrig sind Paare.
Vorher und Nachher folgen aufeinander.
Der weise Mensch nimmt diese zwei Seiten
als eine gleichwertige Einheit an.
Der weise Mensch handelt ohne Mühe
und ohne etwas beeinflussen zu wollen.
Er kümmert sich um die Dinge,
ohne sie kontrollieren zu wollen.
Er lässt andere Menschen teilhaben,
ohne Worte der Erklärung.
Er engagiert sich, jedoch nicht, um Anerkennung zu erhalten,
er arbeitet, jedoch nicht um Reichtümer zu erwerben.
Wenn die Aufgaben erledigt sind,
dann hält er nicht mehr daran fest.
2 | Eine Einheit bilden
Das Pferd eines sehr armen chinesischen Bauern verschwand eines Tages spurlos, woraufhin die Nachbarn ihn wegen des vermeintlichen Unglücks bedauerten. Der Bauer blieb jedoch trotz der für ihn äußert schwierigen Situation gelassen. Nach einigen Tagen fand das Pferd zu dem Bauern zurück und wurde dabei von mehreren Wildpferden begleitet. Diesmal gratulierten die Nachbarn dem Bauern zu seinem großen Glück. Der Bauer erwiderte, dass man niemals mit Gewissheit sagen könne, ob eine Sache sich eines Tages als Glück oder als Unglück herausstellen würde. Wenige Tage später brach sich der Sohn des Bauern beim Zureiten eines der Wildpferde ein Bein. Wiederum meinten alle Nachbarn, es wäre ein großes Unglück geschehen. Doch der Bauer blieb abermals gelassen. Als kurze Zeit später ein Krieg ausbrach, war der Sohn dieses Bauern der einzige junge Mann, der keinen Kriegsdienst leisten musste.
Wir alle fügen den täglichen Ereignissen Wertungen hinzu. Insbesondere die altbekannten Schubladen mit den Überschriften wichtig oder unwichtig, angenehm oder unangenehm, wertvoll oder wertlos nutzen wir gerne zum Archivieren unserer Erlebnisse. Wir bewahren unsere Meinungen, Gedanken und Ängste über Jahrzehnte auf und haben diese dann im Fall des Falles stets griffbereit. Der Meister rät uns dazu, über die randvoll gefüllten Schubladen nachzudenken. Stellt das ständige Urteilen und Bewerten in unserem Leben tatsächlich eine Hilfe dar? Hilft es uns, in den uralten Schubladen zu wühlen? Laozi vertritt die Auffassung, dass wir den realen Ereignissen keine unnötigen Wertungen hinzufügen sollen. Vorurteile und vorgefasste Meinungen verengen unseren Blick nur unnötig und machen das Leben anstrengend. Bewertungen haben oftmals wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Wie häufig gelten Urteile nur vorläufig, und später treffen sie nicht mehr zu! Sinnvoller ist es, sagt Meister Laozi, wenn wir uns bei der Archivierung unserer Gedanken nur auf die Tatsachen beschränken.
Die schönen und die schweren Tage im Leben eines Menschen sind für dessen Entwicklung wertvoll. Laozi hat erkannt, dass das Schwierige eine Folge des Leichten ist. Genauso wie alles Leichte ursprünglich aus dem Schwierigen hervorgeht. Alles Leben auf der Welt ist miteinander verbunden! Schwierige Situationen wirst du als weniger belastend erfahren, sobald du dieses Naturgesetz verinnerlicht hast. Unglückliche Momente und Erlebnisse bedeuten kein persönliches Pech, sondern sind ein natürlicher Bestandteil des Lebens. Du kannst diese Erkenntnis nutzen, um glücklicher durch den Tag zu gehen.
In der zweiten Hälfte des Textes gibt Laozi dir einen ersten Hinweis darauf, wie du in deinem Leben Zufriedenheit und Glück erreichen kannst. Er sagt dir, du musst nicht alles im Leben kontrollieren und planen, denn das Leben lässt sich nicht bis ins Detail vorausplanen. Du kannst zwar Ziele haben und du sollst dich auch um deine Angelegenheiten kümmern, aber wenn sich dein Leben anders als von dir erträumt entwickelt, dann bleibe entspannt. Es kommt im Leben häufig