Die Zeit flog nur so dahin – und wenig später war auch Lina selbst geflogen. Hingeflogen – mitten auf den blinkenden Tanzflächenboden… Sie musste ja unbedingt versuchen, auf ihre mittelalten Tage noch POGO zu tanzen. Da machten doch glatt die untrainierten Knochen schlapp – und der Kreislauf gleich dazu… Wahrscheinlich war das alles ein bisschen viel für den ersten Urlaubstag auf einem fremden Kontinent.
„Soll ich einen Arzt holen?“, wollte Tilmann ganz aufgeregt wissen. „Quatsch, Du Dabbes, ich bin doch nur hingefallen. Solange ich noch selber aufstehen kann, alles kein Problem!“, wehrte sich Lina vehement. Das würde ihr noch fehlen, gleich am Einstandsabend vom Hoteldoktor aus der Disco abtransportiert werden… Oder gar in einem Krankenwagen in die Inselhauptstadt zu kommen. Fehlt nur noch, dass die Szenerie ins Netz gelangt und Jan ganz zufällig mal drauf klickt, schoss es ihr in den Kopf, als sie so langsam wieder in die Vertikale kam. Mithilfe Tilmanns ausdefinierter Muckis, versteht sich.
„Vielleicht sollten wir mal besser auf Kaffee umsteigen? Irgendwas ohne Datteln jedenfalls.“, schlug er besorgt vor. „Das bringt Dich bestimmt gleich wieder auf die Beine.“ Lina fand so viel Besorgnis nett. Bei Jan drehte sich doch immer alles nur um ihn und seine Befindlichkeiten. Sie lief da eher unter ferner liefen… Umso mehr genoss sie es, jetzt einmal selbst im Mittelpunkt zu stehen. Wie schön, ein Mann, der sich zur Abwechslung doch tatsächlich um SIE kümmerte.
Und so saßen sie noch zusammen und redeten und redeten im etwas gemäßigteren Café-Bistro, bis sie von drinnen hörte, dass der Discjockey „New York, New York“ von Sinatra himself auflegte. Dann ging das Neonlicht überall an – was offensichtlich die unsanfte Aufforderung zum endgültigen Gehen bedeutete.
„Wir müssen hier raus! Die wollen jetzt endlich mal Feierabend machen.“ Feierabend war irgendwie auch schon wieder für Lina. Sie war echt k.o. und noch (oder schon wieder?) ein bisschen wackelig auf den Beinen. Vielleicht hätten sie den Kaffee doch lieber ohne Schuss trinken sollen? Aber der nette Bistro-Boy hatte unbedingt darauf bestanden, dass ein bisschen „Medizin“ in die schwarze Brühe gehörte…
„Ich bring‘ Dich noch auf Dein Zimmer“, kündigte der Ukulelenspieler an und wirkte, als würde er keine Widerrede akzeptieren. Lina war sowieso schon länger jegliche Energie zum Diskutieren abhanden gekommen, sie wankte an seinem Arm mehr oder weniger willenlos hinaus in die Appartement-Landschaft des weitläufigen Clubs. Irgendwie war ihr auch alles egal, sie wollte nur noch in ihr riesiges, frischbezogenes Kingsize-Bett. Einen anderen Gedanken konnte sie nicht fassen, dieser Knaddel-Daddel-Schnaps hatte sie doch ziemlich ausgeknockt. Aber küssen war doch auch im halbwegs volltrunkenen Zustand noch möglich, fand sie. Und ihr Begleiter schien ein williges Opfer zu sein.
„Küssen, kann man nicht alleiiiiiiineeeeee, singt auch der Max Raaaabe, gell?…“, stammelte sie undeutlich in die Nacht – und winkte wild mit ihrem Zimmerschlüssel umher. „Ja, ja, kleine Lina. Du hast einen ziemlichen Schwips, würde ich sagen. Gib‘ mal her, so triffst Du das Schloss ja nie…“
„Nee, nee, nee… Schlage vor: Kuss, hm, hihihi, gegen Schlüssel, okeee?“, kam etwas undeutlich aus ihrem Mund.
„Na gut. Überrrrrrrrr-redet!“, antwortete er willig – und setzte zu einer erneuten Runde an – fragte sogleich aber anstandshalber nach: „Darf ich nun um den Schlüssel bitten, Miss Knaddel-Daddel?“
Wenn’s wieder mal endgültig aus ist
Mittlerweile machte ihm die Sache mit Lina überhaupt nichts mehr aus – zumindest redete Jan sich das offiziell ein. Und manchmal gelang es ihm sogar, das tatsächlich zu glauben: dass es ihm vollkommen egal wäre, diese Funkstille. Hatte die alte Nervensäge Silvester doch komplett vergeigt – mit ihren Brandanrufen in regelmäßigen Abständen. Nicht zu vergessen, die bitterböse Email vom frühen Neujahrsmorgen. Unmöglich benahm sie sich inzwischen, und Silvester war kein Einzelfall. Nichts, was man mal eben so als „Ausrutscher“ bezeichnen und anschließend einfach abhaken konnte. Jan tippte auf eine schwere Form von Hormonstörungen, wechseljahrsbedingt.
Die ganzen Feiertage zuvor hingen sie im wahrsten Sinne des Wortes aufeinander – oder auch nebeneinander, zur Abwechslung. War es denn dann sooo schlimm, dass er einmal alleine sein wollte? War das Fest der Liebe, geschlagene drei Feiertage und -nächte am Stück, denn nicht genug der Zweisamkeit gewesen? Musste gleich noch ein bombastisches Silvesterfeuerwerk der Harmonie (und der Erotik!) im Anschluss abgefeuert werden? Er war wirklich froh gewesen, dass sie Blitzeis angekündigt hatten. Blitzeis war seine Rettung gewesen. Die Chance auf einen friedlichen Jahreswechsel – die Chance auf einen stressfreien Drink mit seiner Lieblingsnachbarin Tonja. Die Chance auf realen Frieden zum Neujahrsbeginn – ganz ohne Zwangsnähe, weil es sich so gehört zwischen vermeintlich sich Liebenden… Niemand, der ihm ständig vom Abnehmen erzählte, es aber nie richtig in Angriff nahm, stattdessen aber bei allem, was ess- und trinkbar war, nicht nein sagen konnte. Niemand, der ständig alles und jenes auseinandernahm, was er sagte – oder auch nicht sagte. Niemand, der ständig mit einem Ohr am Café lauschte, obwohl „Feiertag“ war und die Perlen den Laden auch super alleine schmissen. Niemand, der – nennen wir es beim Namen – schlicht und ergreifend die meiste Zeit eine Nervensäge war.
Diese Frau brachte ihn vermutlich noch um den letzten Funken Energie, befürchtete er. Manchmal hatte er schon das beklemmende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Atemlos – nur ohne Helene Fischer und das Ganze sogar schon tagsüber… Und dass, obwohl er in einer Art Luftkurort im Hohen Vogelsberg residierte. Aber für ihn fühlte sich das alles mittlerweile an wie ein einziges Reizklima – und das Gebirge war nicht schuld daran!
Er war wirklich kurz davor, Lina ein offizielles Kündigungsschreiben ins Haus flattern zu lassen. Aber das war nur ein kurzer Gedanke gewesen. Es wäre nicht sein Stil gewesen, nicht seine Art, die Dinge auf diese Weise zu beenden. So etwas hätte eher zu Lina gepasst: die ganze Wut ungefiltert in die Tasten hauen und dann auf „SENDEN“ drücken. So etwas würde ihr ähnlich sehen.
Er jedoch war nicht ganz so impulsiv wie Lina. Ein bisschen hatte sich Jan auch schon an die gemächliche Vogelsberger Mentalität angepasst.
Gemach, gemach… Erst ma gucke, dann ma seh’n…
Aber zu sehen gab es neuerdings auch nichts mehr, denn Lina war doch tatsächlich alleine losgezogen. Eine kurze SMS hatte ihn anstandshalber noch informiert, dass die Holde gen Afrika gereist war. Zugetraut hätte er ihr das nicht, und eigentlich konnte es ihm auch egal sein, fand er. Aber irgendwie wurmte ihn die Sache doch. Den geplanten Ostseetrip hatte er zwar für null und nichtig erklärt, sich einfach nicht mehr gemeldet, geschweige denn dazu geäußert. Aber dass die Funkstille nun gleich das komplette Mittelmeer zwischen sie bringen musste, war auch irgendwie blöd.
Wie er es auch drehte und wendete, Fakt war, dass alles auf eines hinauslief: Trennung Nummer zwei. Oder war es vielleicht in Wirklichkeit schon die dritte oder die vierte? Maue Phasen hatte es immer wieder gegeben, doch nun hatte Jan Johannsen bald die Faxen dicke. Immer diese Vorwürfe, dieses Anklagen, die ständigen Erwartungen. Hochgeschraubte Erwartungen, die zum Schluss immer irgendetwas mit Heiraten oder Familiengründung zu tun hatten. Das war einfach nicht sein Ding, es fühlte sich an wie „Betreutes Wohnen“, wenn er alleine an ein erneutes Zusammenleben unter einem Dach mit ihr dachte! Immerhin war Jan ein Künstler, hatte eine sensible Seele, die Zeit und Raum brauchte, zum kreativen Ausdruck, zur inneren Einkehr, zur Muse – und nicht zuletzt zum Sortieren seiner Kontoauszüge… Der neue Reichtum musste ja auch irgendwie verwaltet werden. Profane Erkenntnisse, aber es gab schlimmere Wahrheiten. Seine früheren Kontoauszüge zum Beispiel… Armselige Relikte aus der Zeit, bevor er zum Van-Gogh der Neuzeit wurde. Jetzt war er immerhin eine Art „Öffentliche Person“, eine schillernde Figur der Kulturszene – und das nicht nur in Deutschland, nein, auch international hatte er von sich Reden gemacht.
Wie