So schien es nun, als liefe der bevorstehende Jahreswechsel des On-Off-Paares eher suboptimal, zumindest für den weiblichen Teil dieser Beziehungskiste... Lina Siebenborn.
Denn wieder einmal lag sie allein in ihrem halbleeren Doppelbett. Zwar richtig herum und nicht wieder quer, wie es so ihre Angewohnheit war, wenn sie unbemannt in den Federn lag – aber mutterseelenallein. Denn Jan, der feinsinnige und übersensible Künstler mit hanseatischem Migrationshintergrund hatte erneut überhaupt keine Lust gehabt. Keinerlei Ambitionen, zu nichts. Früher hieß das NULL BOCK, aber unterm Strich kam dasselbe dabei raus: Er wollte einfach nicht zu ihr kommen, nicht runter von seinem mittlerweile über alles geliebten Vogelsberg. Da kam ihm die Wettervorhersage mit Blitzeis und so gerade recht, um auf dem Berg zu bleiben und nicht nach Bad Salzhausen kommen zu müssen. Es wäre ja zu schön gewesen, wenn er sich zur Abwechslung mal in Bewegung gesetzt hätte. Die letzten beiden Jahreswechsel hatten sie noch in trauter Zweisamkeit in Schotten verbracht, wo er seine neue Heimat gefunden hatte. Nach einigen Turbulenzen in ihrem verflixten siebten Jahr – damals war es 2012 – und beinahe wäre sogar die Welt untergegangen, genau am 22. Dezember. Doch nada, niente, nix fand statt! Dieses Finalereignis war wieder mal ausgefallen, auf Prophezeiungen war eben auch kein Verlass mehr. Das hatten diese Vorhersagen mit der Liebe wohl gemeinsam. Nein, der Weltuntergang war nicht gekommen, aber dafür gab es eine kleine Schlammschlacht am Stausee und danach die Versöhnung von Lina und Jan. Ein Happy End wie aus dem Roman…
Und: Was niemand für möglich gehalten hat, am wenigstens wohl Jan Johannsen selbst – oder irgendjemand in seinem näheren Umfeld – war eingetreten: Der vornehme Hanseat hatte sich tatsächlich zum waschechten Oberhessen gemausert. Und bekam nicht mal mehr Durchfall auf Handkäs‘ mit Musik. Dafür babbelte er schon wie die Eingeborenen: „Unn, wie?“ für „Wie geht’s?“ – „Ei Guude!“ für „Guten Tag!“ – „Es geehd de Mensche wie de Leut‘“ für „Da kann man wohl nichts machen!“ – „Obaacht!“ für eine allgemeine Warnung oder „Als druff uff die Klaane!“ für eine Empörung, die vielerlei Ursachen haben konnte.
Unglaublich, wenn das seine vornehme Hamburger Mutti hören würde, sagte sich Lina oft. Die würde glatt zu einem Gefühlsausbruch in Form von einem gekünstelten Schniefer neigen. Dass ihr hochwohlgeborener, feingeistiger Sohnemann aus bester Villa in teuerster Alsterlage sich derart in der oberhessischen Provinz integrieren würde. In dem Fall war die familiäre Stimmungslage vehement gegen Integration! Aber geschickt wie der Herr nun einmal war, benahm er sich im Beisein der Frau Mama immer ganz gediegen und hanseatisch zurückhaltend. Niemals wurde er laut oder gestikulierte wild wie sonst, nein, er war unter den Augen von Gisela Johannsen immer formvollendet und galant. Doch wehe, wenn er wieder die Oberhand hatte in seinem kleinen Fachwerkstädtchen, da fühlte er sich wie der „King von der Altstadt“ – und als hätte er das Erbe von Opa Abbel, dem vormaligen Hausbesitzer, bis ins letzte Detail angetreten, saß er von O – O (Ostern bis Oktober, wie beim Reifenwechsel) auf der alten Bank vor seinem Häuschen, rauchte Zigarillos und philosophierte mit jedermann, der sich gerne mit dem berühmtesten Sohn der Stadt austauschen wollte. Und es waren nicht gerade wenige, die sich gerne in seinem Dunstkreis bewegten. Schließlich war Jan Johannsen bekannt wie ein bunter Hund. Keine Woche verging, ohne dass man ihn auf irgendeinem Kanal im Fernsehen sehen konnte. Irgendwo tauchte er immer auf, der Vorzeige-Vogelsberger. Lina wartete insgeheim nur darauf, dass ihm irgendwann Vulkanier-Ohren wuchsen, denn er war durch und durch auf Du mit dem Vulkangestein des „Vuulsberchs“, wie Einheimische – und zu denen zählte sich der Herr ja mittlerweile – liebevoll ihr Hausgebirge auf Gut-Platt nannten. Und solche Ohren hätten sich sicher auch gewinnbringend vermarkten lassen. Wenn da nicht im Vorfeld schon die Sache mit dem verbrannten Ohr gewesen wäre…
Ja, die Marketing-Maschine ratterte seit dem Blitzschlag auf dem Keltenberg unaufhörlich – und die Hausbank hatte Jan ganz schnell wieder gewechselt, denn in der näheren Umgebung sollte doch niemand wissen, was für Summen da unglaublicherweise inzwischen auf seinem Konto aufgelaufen waren. Die Zahl war mittlerweile im höheren sechsstelligen Bereich – und immer öfter wurde der Promi aus Oberhessen zu bankinternen Veranstaltungen, hochinteressanten Vorträgen, Häppchen und Sekt oder „Meet & Greet“ mit irgendeinem Finanzguru eingeladen. Ganz intime Kreise, man war sozusagen als „Hochfinanz“ unter sich, ganz verlockende neue Anlagemöglichkeiten, ganz geheime Strategien, die man angeblich nirgendwo nachlesen konnte.
„Sichern Sie Ihr Geld außerhalb der EU, und zwar jetzt!!! Wer weiß, was noch auf uns alle zukommt, wenn Brüssel wieder Geld braucht – oder Athen, um es mal beim Namen zu nennen – und, Herrschaften, der Staat greift bei IHNEN, den Leistungsträgern der Gesellschaft, den Säulen, auf denen der Erfolg von weiten Teilen der Bevölkerung gegründet ist, sehr verehrte Damen und Herren, ZU ALLERERST ZU! Deshalb, handeln Sie sofort, und zwar jetzt!“ Das war nicht ohne Folgen geblieben. Selbst Lina war schon ganz nervös geworden und hatte in einem Anfall von Panik ihr eigens erwirtschaftetes Vermögen erst einmal in Betongold umgesetzt, sprich, sie hatte investiert. Nach all den Schauermärchen, die Jan immer erzählt hatte, wenn er gerade mal wieder von so einem Vortragsabend gekommen war…
Aber das waren für Lina heute Abend nur Sorgen von vorgestern. Erst einmal musste sie realisieren, dass es wohl ein einsamer Jahreswechsel werden würde. Welcome 2015?
Na, sie wusste nicht so recht.
Jan, Jan, Jan: Ick hör‘ dir trapsen, wa?, würde eine Berlinerin da kurzerhand kommentieren. So ganz lupenrein war die Sache nicht. Noch vor ein paar Monate wäre er bei dickstem Nebel zu ihr ins Bettchen gehechtet. Wetterwarnungen, Eis und Schnee? Die Straßen vielleicht sogar gesperrt? Ei, null Problemo, Jan ist immer zur Stelle. Wer einen Blitzschlag überlebt hat, der lässt sich doch nicht von so einer blöden Wettervorhersage aufhalten, wenn er mit seiner Liebsten zusammen sein kann? Das wäre noch der typische Satz dazu gewesen. Aber nun? Ebbe in der Liebesgrotte. Kein Engagement – nicht mal am letzten Feiertag des Jahres.
Wahrscheinlich lag er jetzt auf seinem Mega-Sofa (nagelneu, überdimensional groß und richtig teuer!), mit Asta im Schlepptau, seiner treuen Hündin, die er auch von Opa Abbel geerbt hatte. Und ziemlich wahrscheinlich zappte er wahllos durchs Programm und verkostete zeitgleich neue Weine. Multitasking á la Jan. Am Ende betrachtete er das Ganze offiziell auch noch als Arbeit… So Linas Vermutung am frühen Silvesterabend. Wie waren noch seine Worte beim Telefonat gewesen? „Du, ich bleibe lieber bei mir zuhause. Ich brauche mal ‘ne dicke Mütze Schlaf. Der viele Stress mit den Malkursen, die ganzen Auftragsarbeiten. Du weißt doch… Und dann noch die Straßenverhältnisse. Blitzeis, da ist nicht mit zu spaßen, gell? Du bist doch nicht böse???“
Ja, sie wusste. Er war ein Mimösjen geblieben – auch nach seinem überlebten Blitzschlag. Und trotz seiner Popularität als Van Gogh vom Keltenberg. Fast keine Talkshow, in der er nicht schon eingeladen war, keine Zeitung, keine Zeitschrift, die nicht über ihn berichtet hatten, das Internet hatte tausende, ach was, abertausende Einträge über ihn. Den smarten Künstler, der einst arm war, aussah wie Vincent persönlich, mit Strohhut und Staffelei auf irgendwelchen Bergen unterwegs war und den Anschein erweckt hatte, als wäre er irgendwie aus der Zeit gefallen. Das hatte den Wendepunkt in seinem armseligen, depressiven Künstlerdasein markiert. Seitdem rollte der Rubel sehr, sehr fleißig. Nur das verkokelte Ohr wollte nicht so recht, wie er es gerne gehabt hätte. Tja, alles hat eben seinen Preis.
„Schlafen kannst du doch auch hier. Bei mir!“, hatte Lina noch eingeworfen. Aber es war nichts zu machen gewesen.
Dabei hatte alles so schön angefangen. Wieder angefangen.
Mit Fleischwurst und Kakao und einem Silvester, wie es schöner kein Hollywood-Regisseur hinbekommen hätte. Hach!
Und nun schlief er immer öfter wieder in Schotten. Auch am Wochenende, nun sogar an Silvester. Der Trubel im Café war ihm zuviel. Zu viele Menschen, zu viel Kaffee (den vertrug er anscheinend nicht mehr - neuerdings), zu viel Lina. Er wollte lieber seine Ruhe. Irgendwie war die Luft heraus. Insgeheim vermutete sie schon eine Affäre mit einer seiner vielen attraktiven Malschülerinnen, die nach Schotten gepilgert kamen wie die Katholischen zu einem Wallfahrtsort.