Kapitel 1: Das Erwachen
Das Zimmer war düster. Es roch widerlich süßlich und das störte Kowalski sehr. Karl-Heinz Kowalski, so sein vollständiger Name, unter seinen besten Freunden besser als Kalle bekannt, rülpste lautstark und versuchte, durch den Mund zu atmen, damit ihn dieser Gestank nicht dazu brachte, sich zu erbrechen.
Was war denn nun schon wieder los? Was war letzte Nacht geschehen? Hatte er sich etwa wieder besoffen? Höchstwahrscheinlich. Hoffentlich hatte er es wenigstens bis ins Bett geschafft. Er versuchte sich, mühevoll aufzurichten. Dabei dröhnte sein Kopf. Nicht nur das. Es begann auch lautstark hinter seiner Schädeldecke zu klopfen. Sein Rücken schmerzte stark und er war überall verspannt. „Autsch!“, schrie er und fiel zurück auf den Boden. „Scheiße! Scheiße!“
Er war schon wieder auf dem Fußboden eingeschlafen. Wie oft war das schon vorgekommen? Er wusste es nicht. Er konnte die vielen Male nicht mehr zählen.
Kowalski tastete um sich. Etwas berührte kurz seine Finger, kippte dann um, nur um dann gluckernd etwas, höchstwahrscheinlich Bier, auf dem Fußboden zu verteilen. Kalle wagte es zu riechen. Ja, es war Bier. „Na, wunderbar“, schoss es ihm durch den Kopf. „Da geht mein Frühstück dahin.“
Ganz abgesehen davon, dass man den Gestank des Biers nicht so ohne weiteres aus dem Teppich herausbrachte. Irgendwo hier musste er noch mindestens eine weitere Flasche umgestoßen haben, als er letzten Abend im Zimmer zusammengebrochen war, denn er begriff, dass der strenge Geruch von einem Bier stammen musste.
Heftige Kopfschmerzen begleiteten seinen Kater. Stöhnend wagte er einen neuen Versuch aufzustehen. Warum war es hier bloß nur so verdammt dunkel? Ach ja! Er hatte mit seiner Sonnenbrille auf der Nase geschlafen. Er nahm sie tagsüber nicht ab. Auch nicht, wenn es trübes Wetter gab oder schwarze Wolken den Himmel verdunkelten. Eigentlich legte er sie, damit sie nicht kaputt ging, nur nachts ab. Dieses Mal offensichtlich jedoch nicht.
Die Sonnenbrille war zu seinem Markenzeichen geworden. „Seht, da kommt einer der Blues Brothers!“, scherzten einige seiner Kollegen, wenn sie ihn sahen.
„Nein“, entgegnete er da immer. „Dafür fehlt mir noch der stylische Anzug.“
Unter seinen Kollegen war er eigentlich, bis auf wenige Ausnahmen, sehr beliebt gewesen. Außer bei Oberkommissar Klaus Dernach, der nun wirklich nicht viel von ihm und seinen Methoden hielt und obendrein ein echter Korinthenkacker war. Dabei wurde Kalle von seinen anderen Kollegen immer gerne zu vielen Einsätzen dazugerufen. Kalle hatte nämlich das, was man auf der Polizeischule nicht beigebracht bekam: Langjährige Berufserfahrung.
Im Gegensatz zu einigen anderen, griesgrämigen Kollegen, teilte er sie auch liebend gerne mit den Jüngeren. Dies brachte ihm Respekt ein und bewahrte ihn das ein oder andere Mal vor einer Suspendierung. Dernach sah daher das eine oder andere Mal über seine gelegentlichen Ausfälle und Aussetzer hinweg. Trotzdem war er ihm ein Dorn im Auge. Das machte er ihm auch unverhohlen klar.
Kalle kämpfte sich laut stöhnend auf die Beine, stolperte über die vielen Bierflaschen, die in seiner 2-Zimmer-Wohnung verstreut herumlagen und wankte auf den Rollladen zu. Durch eine Ritze fiel ein wenig Licht herein, so dass er die Position des Fensters orten konnte. Kalle zog den Rollladen nach oben. Grelles Tageslicht begrüßte ihn. Trotz Sonnenbrille wurde er geblendet und es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Dann geschah es. Würgend rannte er zum Klo und übergab sich dort.
Plötzlich klopfte es laut an der Tür.
„Nicht jetzt!“, dachte Kalle verärgert, hing noch einmal seinen Kopf über die Schüssel und würgte weiter.
Jemand klopfte nun eindringlicher an die Tür. „Kalle! Bist du da? Komm’ schon, mach’ auf!“
Es war Peter Herzog. Er war Kalles zugeteilter Partner. Sie hatten bei Kalles letztem Einsatz gut harmoniert und daher war Peter auch von Dernach zu Kalles Kollegen „berufen“ worden. Ihnen war es gelungen, den lästigen Kelkheimer Reifenschlitzer zu fassen zu bekommen. Und das in flagranti. Allerdings musste Peter letzten Endes den flüchtenden Übeltäter zur Strecke bringen. Kalle war für Verfolgungsjagden nicht gebaut worden. Das machte ihm aber nichts aus. Er hatte sozusagen die geistige Vorarbeit geleistet, die sie auf seine Spur gebracht hatte.
Wenn Peter, so wie jetzt sturmklopfte, dann musste etwas Schlimmes passiert sein. Ihr Erscheinen an einem Tatort war höchstwahrscheinlich unumgänglich.
„Scheiße!“, fluchte Kalle und spuckte in die Schüssel, auf die er sich mit beiden Händen abstützte. „Ausgerechnet jetzt!“ Er schnaufte schwer und rief dann in Richtung Eingangstür: „Gleich!“ Da ihn eine erneute Übelkeit überkam, würgte er noch einmal alles aus ihm heraus. Vor seinem Partner durfte er schließlich nicht so abgewrackt aussehen. Zumindest nicht abgewrackter als er es ohnehin schon war. War das aber überhaupt möglich?
Kalle machte sich schon lange nichts mehr vor, was ihn selbst betraf. Nichts würde sich bessern. Daran hatte er früher noch geglaubt und sich mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft selbst belogen.
Es war zwar kein offenes Geheimnis, dass Kalle ein Alkoholproblem hatte, aber die Kollegen tuschelten schon, wenn er an ihnen vorüberging. Einmal war er nämlich so unvorsichtig gewesen und seine Fahne hatte man schon Meilen gegen den Wind gerochen. Wenn Oberkommissar Dernach etwas über seine Sucht herausfand, war er reif. Sofortige Entlassung aus dem aktiven Dienst. Das war Kalle klar. Immerhin würde man ihn nicht sofort feuern, sondern es bei einer vorübergehenden Suspendierung gefolgt von einer sofortigen Entzugskur belassen. Kalle wollte es nicht darauf ankommen lassen. Aber heute? Jetzt? Er roch aus dem Mund wie eine Kuh aus dem …
Draußen probierte Peter ungeduldig den Drücker und … gelangte ins Innere. Das verblüffte ihn ebenso sehr wie Kalle.
„Oh, nein!“, schoss es Kowalski durch den Kopf. „Ich hab’ noch nicht mal abgeschlossen!“ Er massierte angestrengt und ausgiebig seine Schläfen und versuchte auf diese Art und Weise seine Kopfschmerzen wegzubekommen. Natürlich erfolglos. „Scheiße.“
„Igitt!“, rief sein Partner aus. „Wonach riecht es denn hier?“ Eine Stille folgte. Sein Partner musste sich umsehen. Kalle lauschte angestrengt und hörte ihn durch die Wohnung gehen.
„Kalle, was hast du denn hier getrieben? Ach, Gott … Hier sieht es ja aus! Was soll das Durcheinander? All die Bierflaschen! Das ist ja schlimmer als in einer Messibude!“
„Jetzt übertreib’ mal nicht!“, entgegnete Kalle wütend, wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und schnäuzte dann in ein Stück Toilettenpapier, das er dann angewidert in die Schüssel feuerte. Er griff nach der Spülung und betätigte sie. Das laute Sprudeln ließ seine Kopfschmerzen noch einmal richtig an Fahrt gewinnen. Langsam erhob er sich. Als Kalle wieder stand, verspürte er zwar noch einen leichten Schwindel und selbstverständlich Kopfschmerzen, aber die Übelkeit war glücklicherweise verflogen. „Gott sei Dank!“, dachte Kalle und schickte ein Stoßgebet gen Himmel.
Peter kam zur Toilettentüre und hielt sich die Nase zu. Er trug wieder seine abgetragene dunkelblaue Jeans, dazu weiße Turnschuhe und ein blau kariertes Hemd, dessen Ärmel er herumgekrempelt hatte. Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Kalle. Mann! Was ist mir dir los?“
„Ach, nichts“, log Kalle. „Hab’ was Falsches gegessen.“
„Wer’s glaubt, wird selig! Du musst dringend etwas an deinem Lebensstil ändern“, hielt ihm Peter wieder einmal vor. „Oder Oberkommissar Dernach wird dich demnächst zwangsweise in eine Entzugskur stecken.“
„Ich verändere ja bald was. Ich versprech’s!“ Kalle glaubte nicht wirklich an seine eigenen Worte, doch diese konnten für andere ziemlich überzeugend klingen. Nicht so bei Peter. Kowalski hoffte einfach darauf, dass ihr neuer Fall derart dringlich war, dass Peter nicht lange auf seiner Moralpredigt herumreiten konnte.
„Wir müssen rüber nach Bremthal in die Waldallee 98A“, rückte Peter nun endlich mit ein paar Details heraus. „Aha“, dachte