«Die Welt», sagte der junge Mann, der dem Bündel entstiegen ist, «ist komisch. Komisch im Sinn von seltsam und komisch im Sinn von lustig oder zum Lachen reizend. Und wir hocken auf ihr wie die Flöhe im Fell eines Affen. Oder vielmehr einer Äffin. Die Flöhe können der Äffin nichts anhaben: höchstens sind sie manchmal ein wenig lästig. Allerdings geben sie auch Anlass zu dem köstlichen Vergnügen, sich vom Lieblingsaffen lausen und flohen zu lassen. Oder selber den Lieblingsaffen zu lausen und zu flohen, wobei man als Dessert dann erst noch die Opfer der Jagd genussvoll verspeisen kann. Des einen Leid ist des andern Freud. Wobei ich natürlich nicht behaupten will, dass Läuse und Flöhe besonders gut schmecken.»
«Und wir», will ich wissen, «sollen die Läuse und Flöhe im Fell der Äffin sein? Aber ich bitte dich, das ist doch
lächerlich! Haben wir nicht die Naturgewalten gebändigt, das Atom gespalten, sind wir nicht in die Weiten des Alls gereist? Waren wir nicht wahrhaft biblisch und haben uns die Pflanzen und Tiere untertan gemacht, auf dass sie sich in – amerikanisch – saftige Steaks oder – französisch – ein Baron d’agneau de lait oder – indonesisch – ein Ayam campur verwandelten? Das ist Kultur, Mann! Dass am Schluss dann alles wieder zu Scheisse wird, liegt in der Natur der Sache. Das Fäkalische ist nun mal die Kehrseite des Kulinarischen.»
«Das hast du schön gesagt. Wir bleiben aber trotzdem die Flöhe und die Läuse im Pelz der Äffin, das lässt sich mit aller Kultur nicht ändern. Ist ja auch nicht weiter schlimm. Wir haben das Glück unserer Hormone. Und das Glück unserer Vergesslichkeit. Manchmal ist uns im Fell der Äffin auch ganz einfach warm. So richtig gemütlich. Dass uns dereinst der Lieblingsaffe lustvoll runterschmatzt – was solls? Das dient schliesslich auch dem Nahrungskreislauf.»
Es bleibt eine Weile still. Dann greifen wir beide gleichzeitig nach dem Hals der inzwischen nur noch zu einem
Viertel vollen Flasche. Der anerzogene Höflichkeitsreflex ist stärker als die Gier, beide ziehen wir die Hand zurück. Ein peinliches Spiel. Ich bemerke, wie ungewollt ein verlegenes Lächeln auf meinem Gesicht erscheint. Er lächelt gepeinigt zurück. Unsere Hände nähern sich in regelmässigem Rhythmus der Flasche, zucken vor ihrem Hals, als wäre der elektrisch geladen, zurück. Schliesslich geben wir es auf, die Flasche bleibt, noch einmal unbetrunken davongekommen, gewissermassen, stehen, wo sie ist.
Der Film zerfliesst, die Gegenwart ist kein Gefängnis mehr, dem man nicht entrinnen kann. Die Mauern der
Vergangenheit und der Zukunft öffnen sich, von meinem Bauch aus macht sich siedend heiss eine überwältigend
allgemeine, grundlose Trauer in mir breit, greift wie eine Welle über mich hinaus. Ich weiss, dass diese Hütte ein
Kastell ist; so muss es auf jeden Fall sein, wenn alles seine Ordnung haben soll. Dass ich Don Quichotte bin, obwohl ich keinen Bart und keine Rüstung und keine Bartschüssel als Helm trage, steht ausser Zweifel. Und jener dort ist Sancho Pansa, mein guter schlauer verfressener Sancho. Jeder weiss, wo er in dieser Geschichte hingehört. Das nenn ich Heimat, das nenn ich Glück.
Der Film beginnt wieder zu laufen, der andere Film, der mit den farbigen Bildern und mit Geräuschen, die jemand erzeugt, der hastig eine Flasche leer trinkt. Der junge, grossäugige Mann wirft die Flasche mit überraschender Kraft in eine dunkle Ecke der Hütte, die Tonspur gibt im passenden Moment ein ziemlich lautes, klirrendes Geräusch von sich. Der junge Mann streckt aggressiv seinen Zeigefinger in meine Richtung.
«Es geschieht dir übrigens recht, dass du in dieser elenden Hütte gelandet bist, ein Verfolgter der misericordianischen Behörde bei einem Verfolgten der misericordianischen Gesundheitsbehörde. Du bist an allem, was dir passiert, selber schuld.»
Ich mag darauf nicht antworten. Ich bin müde.
«Denn vielleicht», fährt er rücksichtslos weiter, «warst du ja in der so genannten Vergangenheit ein Monster: die
Verkörperung der Boshaftigkeit. Eine Drecksau. Ein Folterer, ein Massenmörder, ein Schlächter, ein Nazi, ein
Diktator, ein Verräter, ein Tyrann. Oder einfach nur ein mieser kleiner Ganove und Verbrecher, ein Helfershelfer
und Scharfrichter, ein Befehlsempfänger und Lakai, ein Feigling, ein Denunziant, ein Opportunist und Profiteur.
Und die stecken alle noch in dir wie die Puppen in der russischen Puppe. Ja, so wird es sein.»
Die grossen Augen des jungen Mannes glänzen befriedigt.
«Du denkst wohl, er werde einmal abgetragen sein, der Berg aus Schicksal, den du mit dir herumschleppst?
Weit gefehlt! Es gibt nämlich auch ein Karma, das aus der Zukunft in die Vergangenheit wirkt. Du leidest jetzt für Untaten, die du erst noch begehen wirst. Ziemlich gemein, oder? Zeit und Raum und wir, die wir in Zeit und
Raum geworfen sind, und Ursache und Wirkung, das alles bildet einen Klumpen, eine komplexe Einheit. Wir
meinen zu fliehen. Wir meinen, dem entgegenzurennen, was wir als Streifchen Horizont am Himmel interpretieren. Weil wir es so ersehnen und erhoffen. Oder vielmehr, weil wir die Hoffungslosigkeit nicht ertragen. Aber die Hoffnungslosigkeit ist genau so irreal wie die Hoffnung, ein reines Hirngespinst wie fast alles, was der Mensch als bare Münze zu nehmen sich herausnimmt.»
Ich bin müde, so müde. Die Reden des Irren erschrecken mich nicht, sie langweilen mich bloss und schläfern mich ein. Wie lange ist es jetzt schon her, seit ich die Grenzen Misericordias passiert habe und seither ganz ohne Schlaf auskommen musste? Natürlich, ich bin selbst schuld, an allem selbst schuld, von mir aus. Ist mir doch scheissegal.
Ich schliesse die Augen.
Vielleicht bin ich tatsächlich nur ein Gedanke im Hirn eines Gottes, oder ein Traumfetzen, aber was heisst da schon Gott, Hirn, Gedanke, Traum; und vielleicht ist dieser «Gott» auch wieder nur ein Gedanke oder Traumfetzen im Hirn eines anderen Gottes, oder vice versa. Und vielleicht werden auch aus meinen Traumfetzen und Gedanken Welten geboren, vielleicht sind auch sie wieder Götter, die neue Kinder gebären, ganz aus sich selbst heraus. Sie fallen aus dem weichen Mutterschoss ins leere All, ein Klümpchen Kraft in eine immensen Leere.
Ich lege mich nieder, flach auf den Boden, fröstelnd.
Meine Gedanken verselbstständigen sich, werden zu einer Musik, absichtslos, aber unendlich tröstlich, der Moment des Einschlafens ist wie Heimkommen, eine kleine Erlösung. Bevor das Licht der Kerze erlischt, sehe ich, wie der junge Mann wieder zu einem Bündel auf dem Boden wird. Ich wollte es erkunden mit meinen Sinnen, ertasten mit meinen Händen, erlauschen mit meinem Ohr. Doch da ist nur noch ein leeres Bündel, ein schwarzes Ding in einem schwarzen Ding…
Eins
Es ging schon gegen Morgen. Im Wachsaal war – so paradox das klingt – ein vielstimmiges Schnarchen, Murmeln, Seufzen und Schmatzen der chemisch betäubten Patienten zu vernehmen. In einer Ecke sass die Nachtschwester über einer «Gala» oder «Glückspost» zusammengesunken und schlummerte ebenfalls selig und süss. Nur zwei waren wach: Don Quichotte und Sancho Pansa. Denn sie wollten noch in dieser Nacht abhauen.
Eine Welt voller Abenteuer und Aufgaben erwartete sie.
Komm, die Zeit ist da! ¡Vamos! zischte Don Quichotte seinem Kumpel Sancho Pansa zu. Mit blossen Füssen und in ihren weissen Nachthemden erinnerten sie ein bisschen an Kindergespenster, als sie jetzt aus den Betten stiegen, der eine gross und hager, ein typischer Leptosome (paranoide Schizophrenie, wie der Psychiater befriedigt festgestellt hatte), der andere klein und kugelig, der typischer Pykniker mit einer für den Pykniker typischen manisch-depressiven Neigung. Und schon stand Don Quichotte dicht vor der Nachtschwester und schaute ihr mit durchdringendem Blick ins Gesicht, was diese aber nur veranlasste, die Nase kraus zu ziehen, als müsse sie niesen. Vorsichtig zog ihr Don Quichotte den Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Tür des
Wachsaals. Adiós,