Christian Urech
Misericordia City Blues
Die neuen Abenteuer des Don Quichotte und Sancho Pansa
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Christian Urech
Misericordia City Blues
Die neuen Abenteuer des Don Quichotte und Sancho
Pansa
Die Nacht ist dick und schwarz und samtig warm. Ich habe die Ränder der Stadt hinter mir gelassen, bin den
Sicherheitskräften der Gesundheitsbehörden noch einmal entkommen. Ich befinde mich jetzt auf einer Wiese oder in einem Park. Ab und zu lassen sich die Umrisse von Büschen und Sträuchern erahnen. Vielleicht fünfzig Meter vor mir duckt sich eine Hütte, ein Schuppen oder ein Stall in eine Senke hinein. Mein Hirn ist ganz leer: Ich fühle keine Angst mehr und keine Wut. Nur diese lähmende Müdigkeit, die mich an allen Gliedern in die Erde hineinzuziehen versucht. Ich muss ein wenig schlafen, eine Stunde nur. Da kommt mir die Hütte wie gerufen. Steht da wie ein Geschenk Gottes und hat die ganze Zeit auf mich gewartet, fünfzig Jahre oder hundert Jahre, seit sie erbaut worden ist. Wie tröstlich. Jemanden oder etwas zu haben, das auf einen wartet, ist bei aller Reisegewandtheit, Weltbürgerlichkeit, Ungebundenheit doch etwas Schönes. Es müssen ja nicht immer die knast-ähnlichen Spitäler, die zellenähnlichen Krankenzimmer der Gesundheitsbehörden von Misericordia sein. Der Gott dieser Wiese wird es nicht zulassen, dass mein Schlaf vom Licht extrapotenter behördlicher Taschenlampen brutal entzweigerissen wird. Der Schlaf sei ewig, das Erwachen gewiss. Die Nebelfetzen wachsen in meinen Kopf hinein.
Ich taste mich an den Wänden der Hütte entlang, um die Tür zu finden. Ich lasse mein Feuerzeug an schnappen. Das Innere der Hütte ist im Schein der flackernden Flamme leer bis auf ein undefinierbares Bündel, das in der Mitte des Raumes auf dem Boden liegt.
Eine halbvolle Flasche, gefüllt mit einer irgendwie gearteten Flüssigkeit, rotem Wein zum Beispiel, wie das
rubinrote Aufblinken im Flammenschein nahelegt. Ein Kerzenstumpf. Ein paar Zeitungsblätter, die verstreut
herumliegen. Das wird nun also mein Bett sein in dieser Nacht, mein Prokrustesbett. Ich setze die Flamme an den Kerzendocht. Mache mich daran, Bündel und Flasche einer Prüfung zu unterziehen, denn im sonst leeren Raum sind liegendes Bündel und stehende, mit einer rot blinkenden Flüssigkeit gefüllte Flasche natürlich eine
Sensation. Ich berühre das Bündel und rieche an der Flasche. Ich rieche am Bündel und berühre die Flasche.
Ich lege an beides, Bündel und Flasche, mein Ohr. Das Bündel ist warm und bewegt sich jetzt. Ausserdem beginnt es zu sprechen, das heisst zu murmeln und undeutlich zu fluchen. Ich erstarre vor Schreck.
«Was willst du hier?» höre ich fragen. «Warum lässt du mich nicht schlafen?»
«Verzeihung», antworte ich, «aber der Zufall, ich schwöre es, hat mich zu dieser Hütte geführt. Oder die Versuchung. Es schien mir nämlich so, als würde die Hütte mich erwarten. Wunschvorstellung auf der Flucht, was soll’s.» Ich seufze.
Im Kerzenschein zeigt sich jetzt das ausgemergelte Gesicht eines jungen Mannes, der mich mit grossen Augen
betrachtet.
«So, hinter dir sind sie also auch her», sagt er befriedigt.
«Ach, bin ich kaputt», antworte