„Nach Anduze, bitte.“ Es dauerte nicht lange, bis Juliens Kopf an seine Schulter fiel. Über eine Stunde Fahrt lag vor ihnen. Der Wagen folgte dem Verlauf der Tarn, dann begleitete sie die kühle, unnahbare Mimente an der N 106, bevor sie den Pass überquerten. Als die Burgruine von Saint-Julien-d’Arpaon ihre verfallenen Zinnen in das Mondlicht reckte, spürte Claude ein unheilvolles Kribbeln. Julien schlief an seiner Seite, es war bereits zwei Uhr morgens, doch er fand keine Ruhe und dachte plötzlich an finstere Gespenster, die aus dem brüchigen Donjon heraus krochen und ihm folgen würden. Selbst, als sie die Berge verließen und sich nach der Abfahrt im Osten das weite Becken von Alès mit seinen Lichtern vor ihnen erstreckte, konnte er nicht aufatmen. Irgendetwas stimmte nicht, er konnte es fühlen.
Anduze lag im tiefen Schlaf, als der Taxifahrer sie auf dem Parkplatz am Fluss hinausließ und Claude ihn bezahlte. Julien reckte und streckte sich. Als Claude seine Geldbörse wieder einsteckte, sah er, dass sein Freund auf die schmale Brücke getreten war und ins Wasser starrte. Der gleiche Mond und die gleichen Sterne warfen ihr brechendes Licht in die Wellen.
Er ging zu Julien, sie setzten sich in ihren guten Anzügen auf den Rand der staubigen Brücke und ließen ihre Beine baumeln. Julien würde heute Nacht in Claudes Wohnung übernachten und nicht in sein Appartement in Alès zurückkehren, das er sich gemietet hatte. Für den Übergang. Es war noch nicht entschieden, wo sie zusammen wohnen würden. Und ob es überhaupt eine Wohnung gab, die beiden Intimität und trotzdem ein gewisses Maß an Ungebundenheit schenkte. Claude hatte kein Problem mit dieser Frage. Eines Tages würde sich etwas ergeben, von dem sie beide überzeugt waren. Virenque hatte damit auch kein Problem. Dem Kater war es egal, wer ihm die Dose öffnete. Ob nun seine Mutter, Julien, er selbst oder Amelie …
„Bist du traurig wegen der Heirat? Es ist anders als vorher, nicht wahr?“
Claude lächelte. Julien hatte inzwischen ein gutes Gespür für seine Gefühle entwickelt.
„Tja, ein bisschen vielleicht. Aber sie bleibt uns ja erhalten“, gab er zurück. Seine Hand tastete unwillkürlich umher, er ergriff einen rauen Schotterstein und warf ihn ins Wasser. Es gluckste, der Pegel des Wassers war niedrig und die Wellen nur mäßig. Das Licht der Straßenlaterne am Parkplatz verlieh dem Spiel des Wassers Leben.
„Ja, im Doppelpack sozusagen.“ Julien nickte. Claude musste lachen.
„Das wird noch lustig mit uns. Der gestrenge Herr Kommissar und wir beide. Aber du weißt ja, wie er es meint, wenn er stichelt.“
„Mir würde direkt etwas fehlen, wenn er uns in Ruhe ließe.“ Julien grinste. Claude warf ein paar weitere Steine ins Wasser und wartete auf das Glucksen. Doch er hörte nichts. Kein Plätschern, kein einziges Geräusch. Verdutzt sah er ins Wasser, wo er schemenhaft etwas Ungewöhnliches erkannte, etwas, das nicht dorthin gehörte. Zu ihren Füßen trieb ein dunkler Schatten, der wie ein Sack aussah, ein länglicher Sack, der etwas kreiselte. Claude schrie auf und zog unwillkürlich seine Beine hoch, als er erkannte, dass ein menschlicher Körper langsam an ihnen vorbei zog, ein Gesicht, ein Rumpf, der Bauch nach oben, dann die Beine. Die Steinchen waren auf diesem Mann gelandet, der so tot war, wie es eben nur ging. Er eckte an, blieb an Felsbrocken hängen, um dann wieder von der schwachen Strömung mitgenommen zu werden.
„Claude!“, schrie Julien und sprang hoch. Claude rappelte sich auf, blickte wie erstarrt auf die bizarre Figur, die sich allmählich von ihnen entfernte. Er sah Julien an.
„Verdammt, was ist das? Wer ist das?“ Julien schüttelte den Kopf. „Für einen Moment dachte ich …, aber nein, das ist unmöglich.“
„Ruf die Gendarmerie an“, rief Claude und zog sich die Schuhe von den Füßen. Eine Leiche war unterwegs. Das war etwas für Leutnant Bertin, dem Chef der Gendarmerie und – verdammt, ja – Liebhaber seiner Mutter. Mit einem Satz sprang Claude ins Wasser, die ungewohnte Kühle setzte sich wie ein Schraubstock an seine Beine, dann arbeitete er sich vorwärts. Das Wasser reichte ihm bis an die Hüfte, sodass er es mit beiden Händen von sich weg schaufelte, um voran zu kommen. Die Leiche trieb in Richtung Ufer, auf den Stein zu, auf dem er manchmal saß, wenn er nachdenken wollte. Dann nahm sie doch wieder einen Bogen und trieb erneut zur Flussmitte hin, sodass Claude den Weg abkürzen konnte und sie bald erreicht hatte. Er packte die Beine, die so steif waren, dass er sich ekelte und sich am liebsten die Hände am Jackett abgewischt hätte. Doch er hatte den Körper nun im Griff. Mühsam schnaufend zog er seine Last rückwärts. Er drohte über die Steinbrocken zu stolpern, er schwankte und fing sich wieder. Der Arm des Toten strich an seiner Jacke vorbei. Gut, dass er die neuen Schuhe ausgezogen hatte. Den Anzug konnte er wahrscheinlich sofort in die Mülltonne werfen. Die Vorstellung, Kleidung zu tragen, die Kontakt mit einer Leiche gehabt hatte, weckte Abscheu in ihm.
Bei einem Blick über die Schulter sah er, dass Julien telefonierte und ihm gleichzeitig zu winkte. Einige Minuten später hatte Claude sich bis zur Brücke vorgearbeitet und den Leichnam in Richtung Ufer gezogen. Julien folgte, gab ihm Anweisungen und warnte ihn vor Stolperstellen und tief hängenden Zweigen. Ein blaues Licht zuckte die Hauswände entlang und schimmerte durch das Gebüsch. Endlich, die Kavallerie traf ein. Claude schnaufte seine Anstrengung hinaus. Seine Hände waren inzwischen eisig und die Zähne schlugen aufeinander. Nun kam Julien hinzu, er stieg mitsamt Schuhen ins Wasser und packte den Mann bei den Achseln. Gemeinsam hievten sie die schwere Leiche auf den grasigen Uferrand. Als er geborgen war, reckte Claude seinen schmerzenden Rücken und strich sich eine Locke aus der Stirn. Im Licht der Scheinwerfer sah er, dass Julien sich über den Toten beugte, die Augen weit aufgerissen.
„Aber, das ist doch …“ murmelte sein Freund.
„Du kennst ihn?“ fragte Claude schwer atmend. Er fror erbärmlich und wäre am liebsten sofort heim gegangen. Aus dem Wagen stieg Jean Bertin aus, stämmig, kräftig, missgelaunt.
„Ja,“ hauchte Julien perplex. „Das ist Jerôme. Jerôme Malakov. Aus …“
Seine Stimme brach, er sah Claude ein wenig schuldbewusst an. Eine kalte Hand umklammerte Claudes Herz. Ein Gruß aus Juliens Vergangenheit lag tot vor ihnen, ein nicht mehr ganz junger Mann, wie man nun im spärlichen Licht erkennen konnte, aber groß, gut gebaut, etwas schlaksig. Sein Gesicht war weiß und aufgedunsen, auf seiner Brust leuchteten ihm Pailletten entgegen, die den Pariser Eiffelturm zeigten. Das T-Shirt schien hellblau oder hellgrün zu sein, türkis gar. Als Claude sich etwas näher an das Gesicht herantraute, sah er, dass die Augenbrauen dünn gezupft waren.
„Du hattest mal was mit ihm, oder?“ Diese Worte kamen ihm so schwer über die Lippen. Dabei war er nie eifersüchtig gewesen. Vielleicht war es anders, wenn man eine gemeinsame Zukunft plante. Die Geister der Vergangenheit mussten sich erst als harmlose Erlebnisse herausstellen, bevor man einander sozusagen das Ja-Wort gab.
Julien nickte und biss sich auf die Lippen.
„Aber – eine Tunte? Hab ich da was verpasst?“
Julien blies mit einem unschuldigen Ausdruck die Wangen auf und legt den Kopf schief, doch
bevor er sich näher erklären konnte, brach jemand durch das Gebüsch. Bertin bahnte sich mit den Armen den Weg zu ihnen. Die Haare des Gendarmen standen in alle Himmelsrichtungen und das Hemd unter seiner dünnen Jacke war falsch zugeknöpft. Claude war unwohl zumute. Sicher hatte der Anruf ihn den Armen seiner Mutter entrissen, sie hatten bereits eine Stunde früher Amelies Hochzeit verlassen.
„Was ist los?“ Die polternde Stimme trat eine Lawine in Claudes Innerem los. Schon einmal hatte ein Ex-Geliebter Juliens vor ihm gelegen. „Nicht schon wieder“, stöhnte er leise. Julien