Noch einmal biss sie in den Apfel und machte es sich am Stamm des Baumes bequem. »Aber nun zu deinem Problem, Schätzchen. Die Druidin hat die Reinigung vollzogen?«
Beide Mädchen nickten unisono. Miranda tat es ihnen gleich. »Okay. Dann hast du deinen Geist befreit und dir einen Wolf vorgestellt?«
Wieder nickten die Mädchen zustimmend.
»Interessant. Und passiert ist – wie man sieht – nichts. Richtig?«
Ohne ein weiteres Nicken der Mädchen abzuwarten, sprach die Hexe weiter: »Ja, dann ist doch alles klar. Lyra, was soll ich sagen? Du bist kein Wolf. Fertig!«
Moira schaute verblüfft zu Lyra, dann zu Miranda und wieder zurück. »Was soll das heißen, Lyra ist kein Wolf? Was soll sie denn dann sein? Schließlich trägt sie das Blut eines Gestaltwandlers in sich. Und die Tochter eines Wolfes wird eine Wölfin, so war es schon immer.«
Grinsend nagte Miranda an ihrem Apfel. »Und weil das schon immer so war, muss es auch zukünftig so sein, ja? Was hat die Beanna gesagt, wird sich Lyra in einen Wolf verwandeln?«
Jetzt war es Lyra, die fragend in die Runde schaute. Plötzlich erhellte sich ihr Gesicht. »Nein. Sie sagte, meine wahre Gestalt würde sich nun offenbaren. Aber …«
»Aha! Dann vertrau mal deiner Tante. Als du dich an deinem Geburtstag nicht verwandelt hast, kam mir so ein Gedanke, der sich jetzt bestätigen könnte. Deshalb bin ich hier. Dein Amulett würde die Sache wahrscheinlich einfacher machen, aber es müsste auch so gehen.«
Sichtlich daran interessiert, die Spannung auf ihren Höhepunkt zu treiben, lutschte sich Miranda in aller Ruhe den süßen Saft des Apfels von den Fingern und warf den Kriebsch in die Höhe. Kurz darauf flatterte ein gelber Schmetterling aus dem Wipfel des Baumes und verschwand in der Nacht.
»Okay, dann mal Tacheles. Du bist zur Hälfte Hexe und zur anderen Gestaltwandler. So weit, so gut. Aber du kannst dich nicht in einen Wolf verwandeln. Also ist es wohl naheliegend, dass du die Gestalt eines anderen Wertieres annehmen kannst. Die Auswahl ist da ja recht übersichtlich. Wer logisch denkt und sich nicht blindlings auf das fokussiert, was schon immer so war …« Bei den letzten Worten musterte sie Moira, die ein kleines bisschen in sich zusammenschrumpfte. »Also, wenn wir das Althergebrachte mal außen vorlassen und unserer Fantasie oder auch Logik eine Chance geben, dann kommen wir zwangsläufig zu dem Schluss, dass Lyra sich höchstwahrscheinlich in eine Katze verwandelt.«
Miranda stützte die Hände auf die Knie und grinste triumphierend in die fassungslosen Gesichter der Mädchen. Moira starrte still auf die Hexe, die es sichtlich genoss, eine Klugscheißerin zu sein. In Lyras Hirn ratterte es hingegen. Je mehr sie über Mirandas Idee nachdachte, desto logischer schien ihr diese. Na klar! Hexen konnten sich in Katzen verwandeln, und Hexen mit dem Blut eines Gestaltwandlers möglicherweise in große Katzen. Aufgeregt schaute sie in den Himmel. Der Mond würde nicht ewig sein volles Antlitz zur Verfügung stellen und damit die optimalen Bedingungen schaffen. Sie musste handeln, und zwar jetzt.
Ihre Tante wollte gerade ansetzen, etwas zu sagen, doch Lyra machte eine abweisende Geste und murmelte: »Halte mal für einen Augenblick die Klappe, Tantchen! Ich weiß jetzt, was ich machen muss.« Kaum hatte sie das letzte Wort ausgesprochen, sammelte sie ihre Gedanken und vollzog nunmehr das dritte Mal in dieser Nacht die einstudierte Atemtechnik. Sie schloss die Augen und atmete ruhig und tief. Dabei entging ihr das grinsende Gesicht ihrer Tante und Moiras neugierige Blicke.
Als ihr Geist ein weiteres Mal über dem Apfelbaum schwebte, stellte sie sich ein anderes Tier vor. Und … sauste in ihren Körper zurück. Ein unglaubliches Gefühl empfing sie dort. Hitze durchströmte jede Kapillare. Knochen knackten. Aus ihrer Haut wuchs Fell. Ihre Eckzähne wurden spitz. Dann war alles vorbei. Ein lautes Fauchen durchbrach die Stille. Lyra sah ihre Tante, die aufgesprungen war. Moira hatte sich beide Hände vor den Mund gepresst und starrte sie entsetzt an. Ihre Gedanken kamen nur mühsam in Schwung, als würde sie wieder unter dem Einfluss von Diazepam oder einer anderen pharmazeutischen Droge stehen. Aber ihre Sinne waren hellwach. Gelbe Augen leuchteten in der Dunkelheit. Als würde der Mond wissen, dass sein Job für heute erledigt war, verschanzte er sich hinter einer dicken Wolke.
Hunger
»Lyra, kannst du mich hören? Alles gut mit dir?«
Es war Miranda, die jetzt direkt vor ihr stand. Irgendwie stimmten die Proportionen nicht mehr.
Ein weiteres Fauchen durchbrach die Stille.
Jetzt endlich begriff Lyra, dass sie auf vier Pfoten stand und die tierischen Laute aus ihrer eigenen Kehle kamen.
Das Fauchen einer Katze.
Einer großen Katze.
»Ach du Heiliger Bimbam! Ich hatte recht. Ich hatte tatsächlich recht. Was für ein großartiges Gefühl!«
Miranda schien ihr vorlautes Mundwerk und ihr unerschöpfliches Selbstbewusstsein wiedergefunden zu haben. Ihr Lachen drang laut in Lyras Ohren, die nunmehr um ein Vielfaches sensibler waren als in menschlicher Gestalt. Ihre gelben Katzenaugen fixierten Miranda. Instinkte regierten jetzt Lyras Geist, und der erste davon hieß: Hunger.
»Lyra? Warum schaust du mich so an? Lyra! Feines Miezekätzchen. Du willst mich nicht fressen. Nein! Pfui! Aus! Ich bin schließlich deine Tante. Also konzentriere dich! Hexen stehen nicht auf deinem Speiseplan.«
Wie durch eine dicke Watteschicht hört Lyra, was Miranda sagte. Doch kein überflüssiger Gedanke belästigte ihren Geist. Sie hatte einfach nur wahnsinnigen Hunger. In der Ferne hörte sie, wie ein Hase aus seinem Bau schlüpfte. Und noch bevor Miranda weiterquasseln konnte, sprang sie davon. In der Gestalt eines riesigen Luchses verschwand Lyra im naheliegenden Wald.
* * *
»Und, wie war’s?« Miranda empfing sie mit einem warmen Lächeln auf den Lippen. Verschlafen schaute sie ihre Nichte an und streckte sich müde gegen den Stamm des Apfelbaums, unter dem sie die letzten Stunden gelegen hatte. Der Morgen war längst angebrochen, die Sonne schickte ihre Strahlen durch das Blätterdach, in dem unzählige Äpfel hingen. Schwerfällig stand Miranda auf und begutachtete Lyra, die jetzt nackt und offensichtlich glücklich vor ihr stand und sich etwas aus den Zähnen polkte.
»Fantastisch! Du glaubst gar nicht, wie gut ich als Tier hören kann. Und dieser Hase. Was soll ich sagen? Deliziös. Die Natur ist eben viel besser als das teuerste Restaurant.« Lyra griente bis zu den Ohren. Als wäre es das Normalste der Welt, hob sie nun die zerrissenen Reste ihres weißen Hemdes auf und bedeckte sich notdürftig. »Sag mal, Miranda. Wie machst du das mit deinen Klamotten, wenn du dich verwandelst? Es ist doch ziemlich aufwändig und teuer, immer wieder neue zu kaufen, weil man alles zerreißt.«
Ihre Tante lachte und wischte sich ein paar getrocknete Grashalme von der Lederhose. »Das ist alles eine Frage des Timings. Zuerst solltest du herausfinden, wann und unter welchen Umständen du dich verwandeln kannst. Also, ob es immer klappt, wenn du willst, oder eben nur, wenn dir der Mond wohlgesonnen ist. Mit etwas Übung kannst du es dann so arrangieren, dass du dich erst ausziehst, bevor du dich verwandelst. Und deine Klamotten solltest du an einem Ort deponieren, den du später wiederfindest. Es macht wenig Sinn, nackt durch die Gegend zu laufen, nur weil du das Timing nicht beherrschst.«
Lyra kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Ja, das ergibt Sinn. Vielleicht sollte ich es gleich noch mal versuchen.«
Sie war schon im Begriff, tief Luft zu holen, als Miranda sie zurückhielt. »Mädchen, jetzt übertreibe es nicht! Du hast noch den halben Sommer vor dir und kannst so viel üben, wie es nötig ist. Vorher