Mein mir immer wohl gesonnener Online-Kollege nickt.
»Ja Jens, den Artikel solltest du übernehmen.«
»Ich finde auch, Jens. Du bist hier sogar der Einzige, der das richtig gut hinkriegt. Du verstehst am ehesten, worum es bei so etwas geht ...!«
Auch Elske, unsere Öffentlichkeitsbeauftragte pflichtet ihm also bei. Die anderen Kollegen am Tisch schauen sie ein bisschen konsterniert an. Die blonde Ostfriesin, mit deutlich unter Dreißig die Jüngste am Tisch, kann nicht nur sensibel sein, sondern auch mit spitzen Bemerkungen glänzen.
Unser Sport- und Politredakteur Stein reagiert entsprechend: »Nun mal langsam, Mädel, wir alle könnten das ja wohl machen. Jeder von uns kann über alles schreiben! Kennst ja unsere Devise.«
Natürlich weiß jeder am Tisch, dass dies eigentlich nicht stimmt. Unser Chef jedoch schickt uns überall hin. Er meint, ein guter Reporter müsse über alles berichten können. Elske gibt sich aber noch längst nicht geschlagen.
»Steini, zum einen bin ich nicht dein ›Mädel‹ und zum anderen habe ich recht! Jens macht aus solchen Geschichten immer etwas Besonderes. Er hat einfach ein Gespür für religiöse und kirchliche Themen und begegnet dem völlig offen und ohne Vorbehalte.«
Dies ist nun ein Seitenhieb auf unseren Chef Florian Heitmann. Der hält von Religion und Kirche nämlich weniger als gar nichts. Deshalb bin ich ja so fassungslos. Nun kam dieser Vorschlag ausgerechnet von ihm! Gerade will ich in dem kleinen Rededuell zwischen Steini und Elske vermitteln, da fegt Florian alle Wortmeldungen mit einer Bewegung seiner fleischigen Hand vom Tisch:
»Papperlapapp! Jens macht es. Er hat am meisten Zeit, wohnt im frömmsten Kaff unseres Landkreises und kann endlich wieder von seinem Jesus schreiben.« Jetzt sieht er mich an wie ein Kommandant seine Truppe: »Also Jens, eine ganze Doppelseite über Pfingsten und Pfingstbräuche erscheint von dir am Pfingstsamstag. Sogar vier bis sechs Fotos sind drin! Und vermeide frommes Geschwafel!«
Ich gebe auf.
Wir sitzen bereits seit über zwei Stunden in der wöchentlichen Redaktionssitzung und niemand hat mehr Lust, alles auszudiskutieren. Die nächste Ausgabe ist geplant, die für das Wochenende auch und mit dem eben an mich vergebenen Pfingstartikel ist nun auch die längerfristige Planung beendet. Natürlich hätte ich gerne noch etwas zu »meinem Jesus« gesagt und mir solche Plattheit verbeten, aber es wäre ohnehin zwecklos. Florian muss als junger Mann einmal einen Kirchenschaden erlitten haben. Irgendwann auf einer Betriebsfeier hat er mal erzählt, dass er mit einem Studium der Theologie begonnen, dies jedoch dann abgebrochen hatte. Warum, weiß vermutlich nur er allein.
*
Es wird Frühling. Wie Schmetterlinge aus Raupen haben sich aus zarten Knospen samtweiche, hellgrüne Blätter entfaltet. Der Buchenwald zu Beginn meiner Heimfahrt lässt mir wieder und wieder das Herz aufgehen. Es scheint, als käme mit längeren Sonnentagen auch das Leben zurück. Schwarze, kahle Wälder werden zu Boten eines Kreislaufs, der niemals aufhört. Auch politische Erdbeben, Wahlniederlagen, Kriege, Corona, Brände und Flutkatastrophen sind nicht in der Lage, diesen Kreislauf des Lebens zu stoppen. Oder doch? Wenn sich das Klima weiter erwärmt, werden diese Buchen irgendwann sterben. Wenn sich hier in der Heide der Grundwasserspiegel weiter senkt, werden auch die Felder mit ihren saftig frischen Getreidehalmen, durch die ich jetzt fahre, keine Früchte mehr tragen ... Nein! Ich bin nicht bereit, in die Angst- und Pessimistenhaltung einzustimmen, wie sie uns heute so schnell umklammert, allemal nach mehr als einem Jahr Pandemie und diversen Lockdowns. Ich will atmen, will positiv denken, will Gott zutrauen, seine Schöpfung zu bewahren – wenn wir es schon nicht schaffen!
Himmelstal verändert sich. An der Mühle haben sie zwei Häuser abgerissen. Neben der Feldsteinkirche steht fast immer ein großer grüner Lastwagen. Er beleidigt mein auf das Ensemble von Kirche und Fachwerkgiebel gerichtetes Fotografenauge. Der alte Dorfkrug wurde ebenfalls abgerissen. Am Ortsrand im Norden ist eine neue Siedlung im Werden. Ja, und Jens Jahnke wohnt nun auch hier.
Es hat über ein Jahr gedauert. Maren und ich haben uns zunächst nur gelegentlich, dann fast jede Woche und bald sogar beinahe täglich getroffen. Um es schlicht auszudrücken: Es hat zwischen uns heftig gefunkt. Ich habe die Sechziger überschritten, sie ist acht Jahre jünger – da hat man keine Zeit für ein langes Techtelmechtel. Man entscheidet sich, wagt etwas und zieht zusammen. Wir werden sehen, wie es sich entwickelt.
Als ich in »unsere« Straße einbiege, überkommt mich wieder dieses Fremdheitsgefühl. Es war wirklich ein mutiger Schritt, meine wenigen Habseligkeiten zu verkaufen, meine Wohnung in der Kreisstadt aufzugeben und in Marens Haus zu ziehen. Irgendwie spukt der Geist von Oliver, ihrem verstorbenen Mann, dort noch herum, manchmal jedenfalls. Es ist ihr Haus, sind ihre Möbel, ist ihr Garten ... daran muss ich mich noch gewöhnen. Vermutlich dauert es, bis ich »unser« sagen kann, ohne dass komische Gefühle geweckt werden.
Ich stelle meinen alten grauen Golf IV in den Carport. Ja, meiner alten Kiste bleibe ich treu! Maren ist aus Lüneburg zurück. Ihr schwarzer Golf glänzt im Abendlicht.
»Hallo Jens!« Sie grüßt mich mit einem flüchtigen Kuss. »Ich muss die Wäsche noch eben fertigmachen. Kannst du schon mal den Tisch decken?«
Klar, ich kann. Ich muss. Wir sind beide berufstätig und teilen uns die Hausarbeit, na ja, fast.
Beim schlichten Abendessen erzählen wir uns dies und jenes. Sie hat einen stressigen Tag im Krankenhaus hinter sich und hat sich über einen Oberarzt geärgert. Dann berichtet sie von einem Telefonat mit ihrer Tochter in Berlin und einem mit Miriam. Die ehemalige Untermieterin Marens wohnt mit ihrem kleinen Sohn Jeschu nun bei ihrem Verlobten Peter auf dem Eichenhof südlich von Unterlüß und ist richtig glücklich. Im nächsten Jahr wollen die beiden heiraten. Ich erzähle Maren von meinen Frühlingsgefühlen auf der Herfahrt und dann vom Artikel, zu dem Florian mich verdonnert hat.
»Oh Jens, das ist doch prima! Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche. Ist doch spannend!«
Ich weiß nicht, ob das spannend ist. Und auch nicht, ob es ein fröhlicher Anlass ist, den Geburtstag der Kirche zu feiern. Immerhin hat die nicht nur Gutes gebracht, sondern auch viel Unglück. Nicht nur die Blutspur im Mittelalter mit Inquisition und Hexenverbrennung oder die kolonialistische Missionsgeschichte, auch die seit vielen Jahren unter den Tisch gekehrten Fälle von Kindesmissbrauch lassen die Kirche nicht gerade gut dastehen. Aber Maren scheint an so etwas nicht zu denken.
»Da kannst du was über das erste Pfingsterlebnis der Jünger Jesu schreiben«, meint sie und ihre braunen Augen strahlen, als wäre sie dabei gewesen, »und wie sie gepredigt haben und von allen verstanden wurden. Und dass der Geist Gottes wie in Feuerflammen auf sie kam.«
Ich staune über die Naivität meiner geliebten und sonst so klugen Partnerin.
»Und wie stellst du dir das vor? In Feuerflammen?«
»Na, weiß ich auch nicht. Vielleicht ist es ja nur ein Bildvergleich, eine Metapher. Die Jünger waren derart begeistert und hatten eine solche Ausstrahlung, dass man meinte, es schweben feurige Flammen über ihren Köpfen.«
»Wie so vieles in der Bibel also nicht wirklich, nicht tatsächlich passiert, sondern nur in bildhafter Sprache beschrieben ist?«
Maren schaut mich missbilligend an.
»Natürlich nicht. Auch wenn Metaphern gebraucht werden, ist es doch ganz genau so geschehen!«
Soll einer die Frauenlogik verstehen. Ich habe längst gelernt, nicht weiter zu bohren und auf meine »Wahrheit« zu pochen. Also lenke ich das Thema in eine andere Richtung.
»Ich soll auch über Pfingstbräuche schreiben. Kennst du welche?«
Maren schiebt sich ihre braunen Locken über die Ohren. Ich liebe diese Bewegung, wenn sie nachdenkt. Sie lacht.
»Pfingstochse?«