Polstead Hall oder Die Frau in Rot. Katja Pelzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Pelzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742785930
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Land immer bunter und reicher.

      Samstag- und Sonntagnachmittags hatte sie frei und traf sich mit anderen deutschen Mädchen, die sie in ihrem Englischkurs kennengelernt hatte. Vor allem mit Edith aus Hamburg verstand sie sich. Diese arbeitete als Hausmädchen bei einer älteren Dame, die deutsche Literatur schätzte und mit der sie auf Deutsch konversieren sollte. Sie war selbst deutsche Jüdin, aber rechtzeitig aus Deutschland weggegangen. Sie war einem englischen Pianisten vor dem ersten Weltkrieg in seine Heimat gefolgt und hatte ihn geheiratet.

      Leider war er früh verstorben und da die alte Dame keine Kinder hatte, war sie sehr glücklich über Edith. Und Edith war mehr als glücklich über ihre Stelle. Bei ihrer neuen Freundin konnte Marie sich über ihre strenge Gastmutter ausweinen, die ihr keinen Fehler verzieh. Bei Edith gab es Tee und Shortbread. Beides streichelte Maries Seele. Vor allem die Plätzchen mit ihrer butterigen Zartheit.

      Kapitel 3

      Eines Tages wollte Peter auf dem Weg zur Schule über eine rote Ampel gehen. Marie hielt ihn an der Schulter fest. Da drehte Peter sich unwirsch um und sagte in seinem hochnäsigen Englisch: „Du hast mir gar nichts zu sagen, hat meine Mum gesagt.“ Marie war so baff über diese Frechheit, dass sie nichts zu erwidern wusste.

      Täglich gab Mrs Harris ihr das Gefühl unerwünscht zu sein. Täglich ließ sie das Mädchen schuften wie Aschenputtel.

      Oft dachte Marie an ihre Mutter und Großmutter. Wie gut, dass sie ihr hauswirtschaften beigebracht hatten. Marie wusste, wie man Hemden bügelte und kannte sämtliche Tricks gegen Flecken. Sie hatte zu Hause häufig die Waschtage übernommen und auch in der Küche stellte sie sich geschickt an. Zwar kannte sie vor allem deutsche Rezepte, doch auch die Moden der englischen Küche waren ihr schnell vertraut. Sie kaufte sich von ihrem ersten Gehalt das Buch Traditional Dishes of Britain von Philip Harben. Dieser kochte für die erste BBC-Kochshow überhaupt. Und hin und wieder erhaschte Marie eine Minute der Fernsehsendung, wenn sie ihren Herrschaften etwas ins Wohnzimmer bringen musste und diese zur Zerstreuung vor dem Gerät saßen.

      Maries Familie zu Hause in Deutschland hatte noch keinen Fernseher. Ihre englische Gastfamilie besaß zwar einen, lud sie jedoch niemals ein, sich zu ihnen zu setzen. Doch Philip Harben war auch ihren deutschen Freundinnen ein Begriff. Manch eine bekam die Gelegenheit die eine oder andere Folge zu schauen. Die meisten Gasteltern unterstützten, dass die Mädchen fernsahen, da sie auf diese Weise Englisch und Kochen gleichermaßen lernten.

      Edith erzählte ihr, dass Harben, als nach dem Krieg die Lebensmittel rationiert waren, teilweise seine eigenen Nahrungsmittel mit ins Studio gebracht und in der Kochshow verarbeitet hatte.

      Er hatte seinen Landsleuten gezeigt, wie man aus spärlichen Zutaten etwas Gutes zubereiten konnte. Von ihm lernte England Steak and Kidney Pie kennen und Pommes Frites, die man hier Chips nannte. Und nun lernten es Marie und ihre Freundinnen. Doch im Gegensatz zu Ediths reizender Pianisten-Witwe verloren weder Mrs, noch Mr. Harris oder eines der Kinder jemals ein Wort über Maries Kochkünste. Dabei ließ sie sich jeden Tag etwas einfallen. Sie hatte sich ein weiteres Buch von Philip Harben gekauft. Daraus kochte so ausgefallene Sachen wie Grapefruit and Shellfish Salad und wurde für diese „Extravaganz“ dann auch noch gerügt. „Sie werfen unser Geld zum Fenster hinaus“, sagte Mrs Harris und schüttelte angewidert den Kopf. Daraufhin rührten die Kinder das Essen nicht mehr an. Lediglich Mr. Harris probierte den Salat und schaute angetan. Fand dann jedoch den strafenden Blick seiner Frau auf sich gerichtet und schob den Teller mit dem wie Marie fand, köstlichen Gericht weit von sich, als befürchtete er, dass er sonst reflexartig weiteressen würde.

      Auch für ihre Ente mit Orange, die Marie eines Sonntags als Sunday Roast servierte, gab es eine Zurechtweisung. Marie wurde allmählich klar, dass sie sich noch so anstrengen konnte, sie würde es ihrer Gastgeberin nie recht machen. Sie hatte das Gefühl, dass Mrs Harris immer strenger, ja sogar gehässiger wurde, je besser Marie sich entwickelte. Sie kochte immer besser, ihr Englisch wurde flüssiger und sie organisierte ihre Arbeit immer gekonnter mit wachsender Leichtigkeit. Doch nie zeigte ihre erzkatholische Gastmutter auch nur einen Hauch von Dankbarkeit, nie gab es ein Lob oder wenigstens einen anerkennenden Blick.

      In ihren Briefen nach Hause beschwerte sich Marie darüber, dass es ausgerechnet eine katholische Familie hatte sein müssen. Die Erwartungen ihrer Großmutter wurden hier nicht erfüllt. Von Nächstenliebe war nichts zu spüren. Nicht einmal von Akzeptanz.

      Kapitel 4

      Erst war Marie unsicher gewesen, dann überfordert, dann erschöpft und nun wurde sie allmählich wütend über diese kalte, ungeduldige Person.

      Nach drei Monaten hatte Marie die Nase voll. Sie holte Peter und Liza von der Schule und Tom aus dem Kindergarten ab und brachte sie nach Hause. Sie wusste, dass Mrs Harris einen Arzttermin hatte und bald zurück erwartet wurde. Ruth, die Kleinste, hatte die Mutter mitgenommen.

      Marie sagte sehr langsam und deutlich „I’m not coming back“, zu den drei Kindern, nahm ihren Koffer, schloss die Tür hinter sich und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.

      Sie ging zu Edith, die im Haus der alten Dame in einer kleinen Einliegerwohnung lebte. Edith hatte ihr einmal gesagt, sie könne bei ihr wohnen, wenn sie es bei der Familie nicht mehr aushielte.

      Drei Tage lang ruhte Marie sich bei der Freundin einfach nur aus. Während Edith bei der alten Dame war, setzte sie sich in eines der gemütlichen kleinen Cafés. Dort lauschte sie der Melodie der neuen Sprache und genoss, dass man sie nicht kannte und in Ruhe ließ. Die Bedienung war freundlich und höflich. Es herrschte ein ganz anderer Ton als bei ihnen auf dem Dorf, das erahnte sie über jede Sprachbarriere hinweg.

      Mit Ediths Hilfe setzte sie eine Stellenanzeige in die Zeitung. Eine Woche später hatte sie fünf Antwortbriefe. Ein Angebot gefiel ihr besonders gut. Es handelte sich um die Betreuung einer alten Dame in einem kleinen Ort ganz in der Nähe. Die Tochter der alten Dame hatte auf Maries Anzeige geantwortet. Die Mutter hatte vier leichte Schlaganfälle gehabt, die ihrem Kopf nicht geschadet hatten. Leider war sie jedoch gelähmt und konnte sich nur im Rollstuhl fortbewegen.

      „Sie ist eine sehr angenehme Frau“, hatte die Tochter geschrieben.

      Marie überlegte nicht lange. Sie wollte nicht mehr als Au-pair arbeiten und war froh schnell etwas Neues zu finden. Am nächsten Tag trat sie ihre Stelle an. Ihre Arbeitgeberin, Mrs Cooke, lebte im Herrenhaus der Familie ihres verstorbenen Mannes. Ganz aus hellem Sandstein glich es einer schlafenden Schönheit, deren beste Jahre lange zurücklagen. Das Gemäuer war zum letzten Mal im frühen 19. Jahrhundert renoviert worden und stand inmitten eines hügeligen ehemaligen Wild-Parks mit vereinzelten hohen Bäumen. Die legendäre über tausend Jahre alte Gospel Oak war im Jahr zuvor plötzlich in sich zusammengefallen, als habe sie die Last ihres Alters nicht mehr tragen wollen und war bis auf ein paar Reste verfeuert worden. An ihrer Stelle wuchs nun eine frisch gepflanzte junge Eiche. Marie war traurig, dass sie den alten Baum, gemessen an seinen Jahren, nur um die Länge eines Wimpernschlags verpasst hatte.

      Eine helle Kiesauffahrt führte zu der überdachten und von zwei weißen, toskanischen Säulen flankierten Eingangstür. Als Marie sie zum ersten Mal hochlief, schien die Sonne und tauchte das karamellfarbene Sandsteingebäude in weiches Licht. Marie konnte ihr Glück kaum fassen. Das sollte ihr neues Zuhause sein? So nah war sie ihrem Prinzessinnentraum noch nie gekommen.

      Im linken Flügel des Herrenhauses wohnte Mrs Cookes jüngere Tochter Sarah mit ihrem Mann und zwei Kindern. Im rechten lebte die ältere Tochter Margret, allein.

      Eine Wand in Maries Zimmer im ersten Stock bedeckte ein schwarz-weißes Fries mit Ranken, Pflanzen und Säulen. Durch diese Szenerien kämpften sich mit Schwertern ausgestattete Ritter. Alles im Stil der Renaissance aus dem frühen 16. Jahrhundert. Das Werk trug den Titel The Labours of Hercules. Marie blieb davor stehen und hatte selbst das Gefühl, die Ranken zögen sie mitten hinein in die Vegetation. Es fühlte sich beinahe an wie ein Spaziergang im Wald in der Nähe ihres kleinen Heimatdorfes. Und sie merkte, dass sie froh war, wieder