Bezüglich der Straßenprostitution, der laut Gersch et al. (vgl. 1988, 15) die meisten Drogenprostituierten nachgehen5, zeigt sich diese Abgrenzung auch in räumlich voneinander getrennten Arbeitsgebieten: Es gibt in Frankfurt (und in anderen Städten) zwei von einander unabhängige Straßenstriche. Das ist einmal der legale Straßenstrich in der Theodor-Heuss-Allee, wo vor allem die Frauen stehen, die sich als „professionelle“ Prostituierte bezeichnen bzw. als solche bezeichnet werden. Zum anderen ist das der im „Sperrgebiet“ gelegene „Drogenstrich“ im Bahnhofsviertel, wo überwiegend drogenkonsumierende Frauen arbeiten. Im Sperrgebiet heißt, dass die Frauen, die im Bahnhofsviertel auf der Straße anschaffen gehen, in jedem Fall illegal dort arbeiten und ordnungswidrig handeln, da sich die in der Verordnung ausgewiesene Toleranzzone auf die dort ansässigen Bordelle beschränkt (vgl. Information zur Sperrgebietsverordnung für Frankfurt am Main, 1987; HWG, 1994, 157).
Die Sperrgebietsverordnung ist für die Beschaffungsprostituierten nur schwer einhaltbar, da die legalen Möglichkeiten begrenzt und von „Profi“-Frauen und Zuhältern6 aufgeteilt sind (vgl. Leopold/Steffan 1996, 123). Unabhängig davon sind die auf dem Straßenstrich arbeitenden Drogenkonsumentinnen in der Regel nicht als Prostituierte7 gemeldet. Unter diesen Bedingungen müssen die Frauen ihrer Arbeit möglichst unauffällig nachgehen, um den Ordnungsbehörden zu entgehen. Das wirkt sich wiederum auf die Interaktionen mit den Kunden aus.
Daneben verstoßen die Drogenkonsumentinnen zwangsläufig immer wieder gegen das Betäubungsmittelgesetz, denn jeglicher Umgang mit illegalen Drogen (mit Ausnahme des Konsums) ist strafbar. Die oftmals vorausgesetzte Verbindung von Prostitution, Kriminalität und Illegalität wird so in der Beschaffungsprostitution besonders wirksam. Hurenstigma und Kriminalisierung bedingen sich gegenseitig.
Der Drogenstrich befindet sich also unmittelbar auf der offenen Drogenszene und unterliegt damit eigenen Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten. Die Szene stellt für die meisten anschaffenden Frauen den primären Lebensraum dar und ist eng mit ihrer Arbeit verbunden. Handel (Deckung des Bedarfs) und Beschaffung der nötigen finanziellen Mittel liegen eng beieinander. So kommen auch die Freier mehr oder weniger mit den Szenestrukturen und -bewegungen in Berührung. Das hat bestimmte Umgangsweisen mit der Situation und spezifische lokale Praktiken aller in irgendeiner Hinsicht Beteiligten zur Folge. Dies wird Ausgangspunkt meiner Betrachtungen sein.
Was geschieht hinter den Kulissen?
Aus der allgemeinen Einführung ergeben sich verschiedene Ansätze, sich dem Thema zu nähern sowie Fragen, die noch unbeantwortet sind. Wie gehen die Frauen, die sich prostituieren, und deren Kunden mit der beschriebenen Situation um? Wie verhalten sie sich unter den Bedingungen von Stigmatisierung, Marginalisierung und Illegalität? Welches Wissen und welche Kompetenzen benötigen sie dafür? Welche Bedeutung haben Prostitution und die gesellschaftlichen Diskurse darüber für die Selbstattributionen der Frauen? Mehr als die geschilderten Rahmenbedingungen, innerhalb derer Drogenprostituierte leben und arbeiten, und als die Vorstellungen anderer Autorinnen und Autoren über diese Frauen zu erfahren, erfordert Fragen dieser Art und einen differenzierten Zugang: Man muss sich ins Feld, in die Drogenszene im Bahnhofsviertel begeben und sich die spezifischen lokalen Praktiken auf dem dortigen Straßenstrich ansehen.
Im Laufe meiner Feldbeobachtungen auf dem Frankfurter „Drogenstrich“ interessierte ich mich besonders für die Interaktionen zwischen Prostituierten und Freiern. Mittels der Analyse dieser Interaktionsprozesse etwas Spezifisches über das Thema Drogenprostitution zu erfahren, ist in mehrerer Hinsicht sinnvoll. Eine solche Herangehensweise nimmt das Handeln von Prostituierten und Freiern in den Blick. Sie setzt ihren Fokus auf einen elementaren Aspekt der Prostitution: die soziale Interaktion der beteiligten Akteure. So kritisiert Ahlemeyer in seiner Studie zur „Prostitutiven Intimkommunikation“, (in der das Thema Drogenprostitution an sich allerdings auch nur sehr geringen Raum einnimmt), an der bisherigen Prostitutionsforschung, dass die beteiligten Akteure überwiegend losgelöst voneinander betrachtet werden:
„Als hätten beide nichts miteinander zu tun, als handelten hier losgelöste Einzelindividuen völlig unabhängig voneinander, verläuft zwischen beiden wie auf einem geteilten Bildschirm ein dicker Balken, der die Einheit und Dynamik der interaktiven Beziehung zwischen Prostituierter und Prostitutionskunden verdeckt. Muster der Kommunikation und der Interaktion zwischen beiden Beteiligten sind in der Forschung bisher weitgehend ausgespart“ (Ahlemeyer 1996, 23).
So kann nur ein sehr grobes, holzschnittartiges Bild gewonnen werden.
Der Blick auf die Interaktionsprozesse in einem bestimmten exklusiven Raum ermöglicht detaillierte und breit gefächerte Ergebnisse zugleich. Beobachtbare Interaktionen sind nicht immer sofort durchschaubar und nötigen, konkrete Fragen zu stellen – vor allem aber genau hinzusehen. Mit der Zeit zeigen sich in den Interaktionen Selbstverständlichkeiten, Regelmäßigkeiten und Muster, die speziell an diesem Ort gelten. Diese Praktiken zu beschreiben, die lokale Ordnung zu rekonstruieren und die (Selbst-)Verständnisse der Akteure ein wenig aufzudecken, ist mein Ziel. Welche Abläufe gibt es? Wer sind die Beteiligten? Gibt es bestimmte Rituale? Welche Rolle spielt dabei die Tabuisierung von Sexualität und Prostitution? Welche (nicht ausgesprochenen) „Arbeitsbündnisse“ im Sinne eines gemeinsamen Vorverständnisses von bzw. einer gemeinsamen Verständigung über die jeweiligen Rollen werden dadurch initiiert bzw. bestätigt? Der Blick auf das Detail schärft auch den Blick für andere, vielleicht verborgenere Themen, z.B. einen verbreiteten Voyeurismus von Männern auf dem Drogenstrich. Die Einbettung der Details in ihren Kontext verweist außerdem auf weitere, vielleicht noch unbeachtete Zusammenhänge, wenn z.B. bestimmte Freier mehr an der Vermittlung von Drogen als am sexuellen Akt interessiert sind. Ich werde also nicht nur Fragen beantworten, sondern auch neue aufwerfen.
Um diesen Interessen zu folgen, muss man ebenso wie die Akteurinnen und Akteure im Feld einiges von seinem Gegenüber, vom Feld, in dem man sich bewegt, wissen. Um das Wissen und die Erfahrungen, welche selten bewusst sind, sondern als „Selbstverständlichkeiten“ bestehen, wird es gehen. Mit diesen Selbstverständlichkeiten wird man konfrontiert, wenn man das Feld betritt. Wenn man z.B. nicht weiß, wie man sich zu verhalten hat und auf unverständliche oder verständnislose Reaktionen anderer stößt.
Indem man die Abläufe und Praktiken auf dem Drogenstrich sowie die Selbstverständnisse der Akteure offen legt, erfährt man auch etwas über die Kompetenzen der Prostituierten. Diese sind für eine gelungene Interaktion und ein ebensolches Geschäft notwendig. Welche Kompetenzen brauchen und entwickeln die Frauen im Umgang mit den Freiern oder der Polizei? Welche Strategien haben sie, mit der Situation, in der sie anschaffen, umzugehen? Wie kommen sie zu ihren Fähigkeiten und dem nötigen Wissen? Dies herauszuarbeiten ist ein weiteres Ziel der Studie. Dazu nutze ich die Gespräche mit den Frauen, in denen sie ihre Prinzipien bei der Arbeit darstellen. Diese Prinzipien sind Grundlage der Interaktionen mit den Freiern, auch wenn sie nicht immer eingehalten werden (können).
Die dargestellten Forschungsfragen markieren verschiedene Ebenen, die allerdings miteinander in Beziehung stehen. Über die beobachtbaren Interaktionsprozesse lassen sich Abläufe und Strukturen des Alltagshandelns rekonstruieren, die gleichzeitig etwas über die Selbstverständnisse und Kompetenzen der Beteiligten verraten und letztlich immer wieder auf den Kontext und die Bedingungen, innerhalb derer sie stattfinden, verweisen.
Zum Aufbau des Buches:
Forschung in einem tabuisierten und kriminalisierten Milieu erfordert eigene Zugangsformen, erst recht dann, wenn dieses Feld von einer Frau erforscht wird. Die Beschreibung meiner Vorgehensweise soll den Forschungsprozess transparent machen und die spezifischen Probleme aufzeigen, entwickeln sich doch daraus die folgenden Ergebnisse. Das Kapitel Annäherung an das Geheime soll aber nicht nur mein Herantasten an den Forschungsgegenstand verdeutlichen, sondern gleichzeitig der Leserin und dem Leser eine Annäherung