„Smilla, wo steckst du nur?“, rief sie in die undurchdringbare Finsternis. Der Wind trug ihre Worte fort, ohne dass sie ihr Ziel erreicht hätten.
Sie zog den Morgenmantel fester um ihre schmalen Schultern und machte einen Schritt nach vorn. Die Haustür fiel hinter ihr mit einem leisen Klacken ins Schloss. Frija entfernte sich mit zögerlichen Schritten, während der helle Lichtkegel der Taschenlampe die nähere Umgebung erforschte.
Der Ruf eines Käuzchens ließ sie zusammenzucken. Smilla schien nicht in der Nähe zu sein, es hatte keinen Sinn, weiter nach ihr zu suchen. Der eisige Wind fuhr ihr unter den dünnen Morgenmantel, Zeit zur Umkehr. Die Katzendame würde schon wieder auftauchen.
Sara bestrich ihr Knäckebrot dick mit Erdbeerkonfitüre und trank einen Kakao.
„Der Sturm hat nachgelassen, ich werde wieder mit dem Bike zur Schule fahren“, erklärte sie zwischen zwei Bissen.
„Nichts da“, widersprach Frija. „Ich bringe dich mit dem Wagen. Es ist viel zu gefährlich.“
„Warum?“
Teenager und ihre tausend Fragen. Sie hatte schon seit Tagen ein ungutes Gefühl im Bauch, nur wie sollte sie das Sara erklären?
„Dich könnte zum Beispiel ein herunterfallender Ast treffen und das Autodach ist bekanntlich härter als dein kleiner Dickschädel“, scherzte Frija, obwohl ihr keineswegs zum Lachen zumute war.
„Mam, jetzt übertreib nicht.“
„Mach ich doch nicht.“
Frija strich ihrer Tochter liebevoll durchs lange Haar.
„Wir haben heute eine Stunde früher aus, nur damit du Bescheid weißt.“
„Geht in Ordnung, mein Mädchen. Können wir los?“
„Von mir aus …“
Frija leerte ihre Kaffeetasse und schnappte sich die Autoschlüssel. Draußen vor der Tür kam ihnen Smilla laut maunzend entgegen.
„Gott sei Dank, du bist endlich wieder da“, rief Frija erleichtert und bückte sich, um Smilla auf den Arm zu nehmen und ins Haus zu tragen. Im Katzenfell hatten sich Spinnweben und Tannennadeln verfangen und Frija fragte sich, wo sich Smilla wohl überall herumgetrieben haben könnte. „Für heute hast du Stubenarrest, Madame“, sagte sie und setzte die Katze auf dem Küchenstuhl ab.
„Maaaam, ich komme zu spät“, rief Sara ungeduldig.
„Bin schon unterwegs“, erwiderte Frija und zog die Haustür hinter sich zu.
Na also, es gab nichts, worüber sie sich den Kopf zerbrechen müsste. Wahrscheinlich hatten ihr die Sinne gestern in der Dämmerung einen Streich gespielt.
Kapitel Zwei
Matilda, du weißt Bescheid?“ Frija musterte sie fragend.
„Ich habe dein Töchterchen doch nicht zum ersten Mal in meiner Obhut“, erwiderte ihre beste Freundin lachend. „Sie wird für die bevorstehende Mathematik-Klausur fleißig büffeln und anschließend gibt es eine extragroße Pizza.“ Matilda zwinkerte Sara fröhlich zu. „Entspanne dich und genieße die zwei Tage. Es wird wirklich Zeit, dass du Stockholm wieder unsicher machst.“ Sie nickte wissend.
„Ich bin nur dort, um meinen Job zu erledigen“, rechtfertigte sich Frija.
„Ja sicher. Aber wer sagt denn, dass du nicht auch ein wenig Spaß haben kannst?“
Matilda versuchte bei jeder Gelegenheit sie zu verkuppeln. Frija war gerade einmal Anfang vierzig und lebte seit Jahren allein. Ihrer Freundin hatte sie bis heute nicht den Grund erzählt, und das war auch gut so. Je weniger Personen involviert waren, desto besser. Das brachte sie zwar hin und wieder in Erklärungsnot, aber damit konnte sie leben.
Frija nahm ihre Tochter zum Abschied in den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Mach keine Dummheiten, meine Kleine.“
„Ich doch nicht, Mama“, erwiderte Sara genervt.
„Gut, dann werde ich mich jetzt auf den Weg machen“, sagte Frija und stand unschlüssig vor der Tür.
Matilda ergriff daraufhin die Initiative und schob Frija nach draußen. „Los jetzt, hopp, hopp, ab nach Stockholm.“
„Du bist unmöglich“, lachte Frija. „Pass bitte gut auf mein Mädchen auf.“
„Du kannst dich auf mich verlassen, großes Indianerehrenwort.“
Frija winkte Sara und Matilda noch ein letztes Mal zu und stieg in den Wagen. Bevor sie losfuhr, atmete sie mehrmals tief durch. Sie hatte diese innere Unruhe immer noch nicht abgelegt, obwohl oberflächlich gesehen alles wieder in bester Ordnung zu sein schien. Katzendame Smilla hatte mittlerweile ihr hübsches Holzhäuschen neben dem Eingang bezogen und es irrte auch keine unheimliche Gestalt durch die Nacht, deren dunkle Silhouette sich im Nichts auflöste.
Frija startete den Motor, drückte kurz auf die Hupe und fuhr in Richtung Schnellstraße. Dunkle Wälder, lichtdurchflutete Seenlandschaften und idyllische Ortschaften zogen an ihr vorüber. Bunte Schilder am Straßenrand verwiesen auf Feriendomizile.
Nach einer Stunde Fahrzeit verdichtete sich der Verkehr rund um Stockholm und Frija spürte die ersten Anzeichen einer Kopfschmerzattacke. Ein starker Kaffee würde mit Sicherheit Abhilfe schaffen.
Am späten Vormittag hatte sie ihr Ziel erreicht. Stockholm ist eine der schönsten Städte der Welt, dachte sie, während sie den Wagen durch die Straßen lenkte. Sie fuhr gern in die Großstadt, auch wenn der Aufenthalt mit einigen Risiken verbunden war. Sie liebte die Architektur, das viele Wasser ringsum, welches der Stadt ein gewisses Inselfeeling verlieh.
In der Innenstadt steuerte sie das Parkhaus an, in dem die Agentur firmeneigene Stellplätze für die Mitarbeiter gemietet hatte, und stieg aus. Der Hall der zuschlagenden Autotür war hier besonders laut.
Frija lief in Richtung Aufzüge und fuhr in die vierte Etage. Lautlos glitten die Türen auf und ein weicher Teppichflor dämpfte ihre Schritte. Die Büros der Agentur waren modern und geschmackvoll eingerichtet. Bodentiefe Fenster, die für Tageslicht durchflutete Räume sorgten. Weiße Schreibtische und extravagante Bürostühle komplettierten den futuristisch anmutenden Look.
„Hallo Frija, schön, Sie zu sehen.“
Frija reichte Jördis Lind die Hand und setzte sich vor den Schreibtisch aus Glas und Chrom. Ihre Chefin blätterte geschäftig in den Unterlagen, die Frija ihr zugeschickt hatte. Seit elf Jahren arbeitete sie nun schon für diese Agentur, aber die Distanz zu ihrer Vorgesetzten war geblieben.
„Ich habe unserem Kunden die Entwürfe gestern vorgelegt und er war …“, sie legte eine künstliche Pause ein und Frija runzelte besorgt die Stirn. „Ihr Konzept hat ihn regelrecht umgehauen, wenn ich das einmal so salopp formulieren darf.“ Auf dem sonst so ernsten Gesicht von Jördis Lind zeigte sich ein schmallippiges Lächeln.
Auch Frijas Miene erhellte sich. „Das sind doch fantastische Nachrichten.“
„Und wie, Sie haben wie immer hervorragende Arbeit geleistet. Auch die vorhergehenden Aufträge sind zur vollsten Zufriedenheit der Kunden ausgeführt worden“, ließ sich Jördis zu einem kurzen Lob hinreißen.
„Danke, das freut mich sehr“, antwortete Frija. „Ich wäre dann für neue Aufträge bereit.“
„Nichts lieber als das. Folgendes