ausgeschlossen hast, dann ist das,
was übrig bleibt, die Wahrheit,
wie unwahrscheinlich
sie auch ist."
Sir Arthur Conan Doyle
1859 - 1930
Vorwort
Obwohl dieser Roman während der Corona-Krise entstanden ist, habe ich mich dazu entschlossen, dieses Thema nicht in die Handlung einfließen zu lassen. Da ich der Meinung bin, dass die Medien schon in ausreichender Form darüber berichten. Wir leiden alle unter den Folgen, doch ein Roman soll in erster Linie unterhalten und vom Alltag ablenken. Handelt es sich, wie in diesem Fall, um einen Mystery-Roman, fließt schon zwangsläufig genug grausame Realität ein, denn die Fantasie eines Autors wird mitunter von den realen Ereignissen übertroffen. Ich bin mir bewusst, dass einige Leser mit meiner Entscheidung nicht einverstanden sein werden, aber wie heißt es so schön? Wer die Wahl hat, hat die Qual. Und eines möchte ich keinesfalls – langweilen. Ich hoffe dennoch, dass die Krise bald überstanden sein wird und in ein paar Jahren nur noch eine schlechte Erinnerung daran zurückbleibt. In diesem Sinne: Bleiben Sie bitte gesund!
Jay Baldwyn
im März 2021
Prolog
Sie erwachte auf einer Art Operationstisch. Und wiederum wusste sie nicht, wie sie dort hingekommen war. Der Raum war seltsam illuminiert, wobei das Licht aus den Wänden zu kommen schien. Es schimmerte in Blau-, Grün- und Türkistönen. Also eine gänzlich andere Atmosphäre als in einem Operationssaal. Nur die große Leuchte über dem Tisch, deren grelles Licht ihre Augen blendete war ähnlich.
Das Schlimmste aber waren die Gestalten, die sich an ihr zuschaffen machten. Zum Teil von geringerer Körpergröße oder sehr dünn und hochgewachsen. Sie hatten kein menschliches Aussehen, sondern glichen eher Amphibien oder Reptilien. Ihre großen, dunklen, fast schwarzen Augen erinnerten an Facettenaugen von Insekten. Insgesamt so schaurige Erscheinungen wie aus einem Horror- oder Science-Fiction-Film.
Mit Grausen stellte sie fest, dass man etwas in ihren Unterleib einführte und ihr womöglich Eizellen entnahm. Wozu? Wollte man nur die menschliche Spezies erforschen oder mithilfe ihrer Zellen ein Mischwesen schaffen? Eine Vorstellung, die sie mit Panik erfüllte. Normalerweise hätte sie sich losgerissen und versucht zu flüchten, aber sie war vollkommen bewegungsunfähig. Hatte man ihr ein Betäubungsmittel verabreicht oder hielt man sie allein durch Gedankenkraft unter Kontrolle? Eine Frage, die sie sich schon mehrmals gestellt hatte, ohne jemals eine Antwort zu bekommen. Wenn man sie diesmal am Leben ließe, würde sie morgen keinerlei Erinnerung an das Geschehen haben. Sollte sie in ihrem Bett erwachen, würde sie allenfalls denken, einen furchtbaren Albtraum gehabt zu haben. So war es bisher jedes Mal gewesen. Oder sie würde sich außerhalb der Ortschaft wiederfinden und nicht wissen, wie sie dort hingekommen war. Ein Umstand, der sie vermuten ließ, sie sei zur Schlafwandlerin geworden. Aber jetzt, wo sie sich unmittelbar in der Situation befand, wusste sie genau, es war kein böser Albtraum, und sie hatte nicht freiwillig ihre Wohnung verlassen. Warum würde sie sich morgen nicht daran erinnern können? Löschte man ihre Erinnerung?
So ließ sie machtlos das Geschehen über sich ergehen. Ihr liefen nur still die Tränen das Gesicht hinunter.
1. Kapitel
Kaden Muller verließ am frühen Vormittag das Hotel, stieg in seinen Mietwagen, den er tags zuvor in Turin übernommen hatte, und machte sich auf den etwa zehnminütigen Weg zu einer ganz besonderen Frau. Es war nicht leicht gewesen, ihre Adresse herauszufinden, doch über viele Umwege war es ihm schließlich gelungen. Am Rande von Caselette, einer kleinen Gemeinde mit etwas mehr als 3000 Einwohnern am Fuße des Monte Musinè, stand ein kleines, typisch italienisches Haus, und Kaden war sehr gespannt auf seine Bewohnerin. Hoffentlich würde sie ihn nicht abweisen, dachte er. Es konnte schließlich jeder kommen und ihr ein wenig heikle Fragen stellen.
Es dauerte eine Weile, bis ihm geöffnet wurde, sodass er beinahe versucht war umzukehren. Doch als sich die Tür öffnete, war er umso froher, es nicht getan zu haben. Die fremde Schönheit musste in etwa in seinem Alter sein, also Mitte dreißig. Sie hatte lange, glänzende, braune Haare und bernsteinfarbene Augen, die ein wenig schwermütig blickten. Sie trug einfache, aber geschmackvolle Garderobe und strahlte eine Aura aus, die einfach umwerfend war und ihn sogleich in ihren Bann zog.
»Ja, bitte?«, fragte Kamile Barbieri mit weicher, melodischer Stimme.
»Entschuldigen Sie, dass ich unangemeldet vorbeikomme«, sagte er mit weichen Knien. »Aber ich hatte Sorge, Sie würden mich am Telefon abweisen.«
»Und dass ich es hier vor meiner Haustür tun würde, sorgten Sie sich nicht?«
»Doch, aber das Risiko bin ich eingegangen. Mein Name ist Kaden Muller. Wir sind Kollegen. Ich bin auch Schriftsteller.«
»Nun, Hauptberuflich bin ich Historikerin, Mythologin und Essayistin. Schriftstellerin bin ich nur in zweiter Linie. Bisher habe ich nur ein einziges Buch verfasst.«
»Aber was für eins. Es hat mich förmlich umgehauen. Deshalb wollte ich Sie unbedingt persönlich kennenlernen.«
»Ich habe damals sehr viele Zuschriften bekommen. Kein Wunder bei dem ungewöhnlichen Thema. Aber persönlich aufgesucht hat mich zum Glück noch keiner.«
»Entschuldigen Sie mein dreistes Vorgehen, aber mir brennen da mehrere Fragen auf den Nägeln. Vielleicht wären Sie bereit, mir einige davon zu beantworten. Ich möchte nämlich ein Buch über diese Gegend hier schreiben. Die nicht nur außergewöhnlich schön, sondern auch sehr geheimnisvoll ist.«
»Bitte, kommen sie herein. Vielleicht kann ich behilflich sein.«
»Vielen Dank. Sie sind sehr freundlich. Ich werde mich bemühen, Ihnen nicht allzu viel Ihrer kostbaren Zeit zu stehlen.«
»Nun, ein wenig kann ich davon schon opfern.«
»Hübsch haben Sie es. Geschmackvoll und gemütlich.«
»Danke. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee, Espresso oder ein Glas Wein?«
»Gern. Es ist zwar noch recht früh, aber zu einem Glas Rotwein sage ich nicht Nein, wie die meisten Italiener.«
»Sie sehen zwar wie ein Italiener aus, mit Ihren dunklen Haaren und Augen und sprechen ein ausgezeichnetes Italienisch, aber ich höre da einen leichten Akzent. Und Ihr Name hört sich auch eher amerikanisch an.«
»Ja, ich bin in den Staaten geboren – mein Vater ist Amerikaner, meine Mutter Italienerin –, lebe aber schon seit einigen Jahren in Rom.«
»Und da nehmen Sie die weite Fahrt in Kauf, ohne zu wissen, ob Sie mich überhaupt antreffen?«
»Ich bin bis Turin geflogen und habe mir dort einen Mietwagen genommen«, lächelte Kaden und zeigte dabei seine, wie Perlen aufgereihte weißen Zähne. »Und für den Fall, dass ich Sie nicht gleich heute angetroffen hätte, habe ich mir ein Zimmer im Vald Hotel in Val di Torro genommen. Das ist ja nur einen Katzensprung entfernt.«
»So viel Aufwand für ein kurzes Interview?«
»Ja, weil Sie mich neugierig gemacht haben. Wie gesagt, das Tal hier birgt einige Geheimnisse und besonders der Monte Musinè. Ich las, dass Sie mit diesem „Zauberberg“ ganz besondere Erfahrungen gemacht haben.«
»Weniger ich als mein Vater. Er hat mir sehr übel genommen, darüber geschrieben zu haben. Ich erwähnte ihn zwar nicht namentlich, aber viele konnten sich trotzdem einen Reim darauf machen. Die Reaktion war sehr zwiespältig. Es ging von neugierigen Fragen, bis hin zur Ächtung, weil man ihn für einen hoffnungslosen Spinner hielt.«
»Das tut mir leid. Aber so sind die Menschen. Was sie nicht verstehen, lehnen sie ab, auch weil es sie ängstigt. Aber bei den vielen dokumentierten Ufo-Sichtungen über dem Berg, und das schon seit grauer Vorzeit, muss man doch in Betracht gezogen haben, dass sein Erlebnis der Wahrheit entspricht.«