Woltner-Lenteks Blick verweilte auf dem auf der Bettkante sitzenden Mann, dessen Hände leicht zitterten, und er fragte sich, ob das Paar wohl schon über Dinge wie Hochzeit oder Kinderkriegen nachgedacht hatte. "Bin ich im Weg?", fragte Evas Lebensgefährte und wollte aufstehen. "Nein, das geht schon", antwortete Woltner-Lentek und drückte ihn behutsam wieder auf das Bett zurück. "Wenn hier jemand stört, dann bin ich das", ergänzte er. "Es dauert nicht lange. Wie geht es Ihnen heute, Eva? Haben Sie noch Probleme mit Ihrer Haut?" "Hey - Sie haben etwas gegen meine Haut, Doc? Ich investiere seit Jahren Unsummen in revitalisierende Nachtcremes, Gurkenmasken und Vitaminpillen, und Sie finden meine Haut nicht schön?" Eva lachte. "Nein, ernsthaft, es ist viel besser geworden. Schauen Sie mal hier."
Eva zeigte dem Arzt ihre Handflächen, die an einigen Stellen gerötet waren. "Ich spüre fast nichts mehr davon". Woltner-Lentek untersuchte Hände und Füße von Eva, die rote, verbrennungsähnliche Hautirritationen aufwiesen. "Tatsächlich, viel besser. Das kommt durch die Dosisreduktion. Manche Patienten vertragen diesen Wirkstoff nicht so gut, aber die Hautreaktionen sind auch ein Indiz für die Wirksamkeit der Therapie. Ich schlage vor, wir lassen die Dosierung für ein paar Tage niedrig und erhöhen dann stufenweise wieder ein bisschen. Meistens treten die Probleme am Anfang der Therapie auf und verschwinden dann." "Und der Rest? Verschwindet der dann auch?" fragte Eva und sah Woltner-Lentek mit einem Blick an, der ihm klar machte, dass sie die Antwort kannte. "Sie haben Lungenkrebs, Eva, aber sie sprechen auf die Therapie an. Das ist erst einmal gut. Mit dem Verschwinden dauert das schon ein bisschen. Sie müssen Geduld haben."
"Versprechen Sie mir, dass Eva wieder gesund wird".
Der Lebensgefährte von Eva war aufgestanden und sah Woltner-Lentek flehend und voller Verzweiflung an. Jetzt sah Woltner-Lentek, dass er geweint hatte. "Das kann er nicht, Martin", sagte Eva, "aber wir hören nicht auf zu hoffen und klammern uns an jeden Strohhalm, den wir erreichen".
Der Professor bestätigte kaum hörbar: "Ich kann es nicht versprechen".
Kapitel 3
Die flackernden Lichter der zahlreichen Laternen und Leuchtreklamen spiegelten sich im nassen Kopfsteinpflaster wider, und es schien, als ob die enge Straße zwischen den Gebäuden Teil eines Gesamtkunstwerks war, das Dunkelheit und Regen nutzte und sich stolz zu präsentieren versuchte. Trotz aller Bemühungen bemerkten die Besucher der Straße weder die Schönheit der Lichtreflektionen, noch die Einzigartigkeit mit der das Kunstwerk die besondere Atmosphäre dieser nächtlichen Szenerie schuf. Sie huschten mit gesenktem Kopf von Fenster zu Fenster oder wandelten ziellos und doch an allem interessiert wie ein streunender Hund die Straße entlang, nicht um die beste Ecke zum Markieren des Reviers zu suchen, aber doch auf der Suche. Auch eine Horde angetrunkener, noch jüngerer Ausländern nahm die eigentliche Schönheit nicht wahr und beschränkte sich, Bierflaschen in die Luft reckend und laut grölend darauf, die Schönste der Schönheiten hinter Schaufenstern zu suchen.
Steffen sah die Herbertstraße in Hamburg zum ersten Mal. Nach einem anstrengenden Tag auf dem Gesundheitskongress Deutschland hatten ihm Hamburger Kollegen wirklich sehr außerordentliche Insider-Kneipen gezeigt. Er hatte nicht erwartet, gerade im nordischen Hamburg so viel Stimmung und gute Laune zu erleben, da er Hamburger bislang eher als reserviert kennengelernt hatte. Dies schien sich mit Einbruch der Dunkelheit zu ändern. Die Besucher übervoller uriger Kneipen hatten lautstark und mit viel Hingabe zusammen gesungen und gefeiert, wie er es bis dahin selten erlebt hatte. Dass Hamburger stur sind und eher kühl, wenig Emotion zeigen und sich reserviert verhalten, schien ihm nach diesem Abend ein unbegründetes Vorurteil gewesen zu sein. "Vielleicht hat es auch am Alkohol gelegen", dachte er und lächelte bei dem Gedanken daran, dass sie in dem Irish Pub einen übergroßen Hut durch das Trinken von angeblich 20 Guinness in einer Stunde gewonnen hatte. Tatsächlich waren es deutlich weniger, doch die etwas mollige, aber durchaus attraktive Bedienung hatte wohl Gefallen an dem heiteren Journalistentisch gefunden und sichtlich viel Freude daran, die Runde mit diesem Gewinn zu überraschen. Steffen war nicht wirklich betrunken, aber hatte sich gegen ein Taxi entschieden und einen Spaziergang durch die erfrischende Kühle des sanften Nieselregens zu seinem Hotel vorgezogen. Der Weg war zwar weit, aber Luft und Regen taten gut nach den verräucherten Räumen der letzten Stunden. Steffen fühlte sich bestens und genoss auch den letzten Teil der Nacht. Der Abstecher in die Herbertstraße kam ungeplant und geschah aus Neugier, als er das Straßenschild und den Hinweis sah, dass der Zutritt für Frauen in dieser Straße verboten sei.
Zahlreiche mehr oder weniger attraktive, leicht oder gar nicht bekleidete Damen präsentierten sich größtenteils offenkundig gelangweilt hinter Fenstern. Beguckt von relativ wenigen Freiern, die sich bei der Ansprache der Damen meistens auf die Worte "wie viel" beschränkten, manchmal gefolgt von "und was machst du dafür?". Wurde man sich einig, öffneten die Damen eine Tür und baten den erwartungsvoll grinsenden Herrn herein. Gekaufte Liebe, Glück für eine Stunde. Was kostet eine Stunde Glück? Whatever - best things in life are for free. Wahre Liebe, Freundschaft und tatsächliches Glück. Hier würde er all das nicht finden. Steffen schlenderte weiter und ärgerte sich, dass seine Kamera im Hotel lag. Gern hätte er die nächtliche Szene festgehalten. Ohne Kamera loszugehen, war immer schlecht. Ob man hier wohl fotografieren durfte?
Seine Gedanken wurden durch den Aufschrei einer Frau abgelenkt. "Don't touch me - ok?" schrie sie und ergänzte ein die einzelnen Worte betonendes "Fuck you". Steffen sah sich um. Eine hübsche Asiatin war von sichtlich amüsierten, jugendlichen Gockeln umringt und versuchte verzweifelt, der Gruppe zu entkommen. "Scheiße", dachte Steffen, "geh einfach weiter", aber er befand sich schon auf dem Weg zu der Ansammlung. Dort angekommen, wurde er mit drohenden Gesten und einem "Was willst Du" begrüßt. Steffen ging durch den Kreis der Männer, nahm den Arm der jetzt verwundert und ängstlich schauenden Asiatin und sagte "Hey Mary, here you are. Come on, hurry up. We need to go". Er zog sie aus dem sich jetzt öffnenden Kreis der überraschten Männer, legte seinen Arm um sie und ging mit ihr in Richtung Straßenende. Erst als sie zirka zwanzig Meter entfernt waren, hörten sie lautstarke Drohungen der Trunkenbolde hinter sich. "Don't look back", sagte Steffen und ging ruhig aber zügig weiter. Er fühlte sich keineswegs wohl in seiner Haut und horchte auf jedes Geräusch hinter sich, aber sie hatten Glück. Augenscheinlich fand man sich mit dem Verlust ab und wendete sich jetzt wieder den Damen hinter den Glasscheiben zu.
Hinter den Absperrungen der Herbertstraße atmeten beide tief auf, sahen sich an und lösten die Umarmung. "Thank you so much", sagte die hübsche Asiatin. Sie war zirka 1,60 m groß, hatte auffällig schöne Augen, lange schwarze Haare, einen vollen geschwungenen Mund und eine flache, aber niedliche Nase. Ihr langer beigefarbener Mantel aus festem Stoff und die fellbesetzten Winterschuhe schienen für diese Jahreszeit etwas zu warm, trotzdem zitterte die junge Frau, während sie in flüssigem Englisch erzählte, dass sie auf dem Weg zu ihrem Hotel gewesen sei und die Verbotsschilder für Frauen vor der Absperrung der Herbertstraße für einen Scherz gehalten hatte. Dass das ein Irrtum war, hatte sie schnell erkannt, als eine der Prostituierten wassergefüllte Plastiktüten nach ihr geworfen und die aufdringliche Männerrunde sie umringt hatte.
"Sie sieht nicht wirklich asiatisch aus", dachte Steffen, "und auch nicht wie eine der Damen des horizontalen Gewerbes". Ihre Gesichtszüge wirkten edel, und das Lächeln, das sie jetzt zeigte, war offen und herzlich. "Schon gut. Ich bin Steffen", sagte er. Sie stellte sich als Riza vor und bedankte sich immer wieder für ihre Befreiung. "Kein Problem", sagte Steffen und lächelte insgeheim bei dem Gedanken an seinen kalten Schweiß auf der Stirn und seine nur mühsam verborgene Furcht, die er gehabt hatte. "Wo ist dein Hotel?" fragte er. "Oh, es ist nicht weit. Das Hotel Venusberg - gleich da vorne". "Tatsächlich? Gut, da muss ich auch hin"