Erst jetzt sah ich, wie gebrechlich und alt der Mann aussah. Er schien erschöpft und müde zu sein.
„Vater, ich glaube nicht, dass du dich wirklich bemüht hast. Er hätte jetzt hier sein müssen, aber er ist es nicht und das ist deine Schuld!“ Dabei hob sie trotzig den Kopf.
„Narissa, Liebling, ich bin bereit alles zu tun, damit diese Verlobung zustande kommt. Ich habe mehrere Gespräche mit Jeremia und seinem Vater geführt. Ich habe ihnen sogar gedroht, dass ich mich mit Netan verbünden würde, wenn er nicht um deine Hand anhält. All dies hat Jahred und Jeremia nicht interessiert. Jeremia denkt, ihr würdet euch noch nicht gut genug kennen und deswegen wäre es verfrüht für einen Heiratsantrag. Kind, versteh doch, ich brauche jemanden, der meinen Thron an deiner Seite besteigen wird, denn ich werde nicht mehr lange sein“, hüstelte er mit gebrochener Stimme. „Aber wir können Jeremia nicht zwingen.“
„Natürlich kannst du ihn zwingen, Vater!“ Wütend verschränkte sie die Arme vor ihrer Brust.
Das war also Narissa.
Ich war schockiert, nicht nur weil sie so rücksichtslos und egoistisch war. Nein, ich war schockiert, weil sie eine perfekte Schönheit, eine regelrechte Augenweide war. Sie entsprach dem Schönheitsideal.
Ihr langes, lockiges blondes Haar umspielte ihr ovales, wohlgeformtes Gesicht. Sie hatte große graue Augen, eine zierliche Nase und volle rote Lippen, die ihren Mund sinnlich aussehen ließen. Ihr ebenmäßiges Gesicht sah aus wie in Stein gemeißelt. Ihre Körperhaltung hatte etwas Majestätisches. Ihr atemberaubend attraktives Kleid betonte ihre grazile Figur.
Schmerzhaft wurde mir klar: Sie würde sehr gut zu Jeremia passen. Genauso sollte das perfekte Paar aussehen.
Wieder traf mich die Erkenntnis, dass ich nie so formvollendet und erstklassig sein würde wie Narissa.
„Hast du ihm denn zumindest die Einladung zukommen lassen?“, wollte Narissa von ihrem Vater wissen.
„Ja, das habe ich, und Jahred hat mir vergewissert, dass Jeremia kommen würde.“
„Wo bleibt er denn? Ich warte schon seit Stunden.“
Müde wandte sich der Herrscher ab. Das Gespräch hatte ihn deutlich angestrengt.
Plötzlich wurde die große Saaltür geöffnet. Ein Diener klopfte mit einem goldenen Stab zweimal auf den Boden. „Meine Damen und Herren, Jeremia Nahal aus dem Territorium Cavalan!“
Mir stockte der Atem und mein Herz raste. Entsetzt blickte ich zur Tür. Er war wirklich gekommen, er war hier.
Jeremia schritt elegant und mit aufrechter Haltung durch die Menge. Die Musik hatte aufgehört zu spielen und die Leute im Saal schauten ihn an. Er trat vor den Herrscher und verbeugte sich. „Verson von Nalada, es ist mir eine Freude, Euch wiederzusehen.“ Er verbeugte sich auch vor der Gemahlin des Herrschers. Schließlich nahm er Narissas Hand und hauchte einen angedeuteten Kuss auf ihren Handrücken.
„Es ist uns eine Freude, Euch willkommen zu heißen. Wir haben Euch schon erwartet.“ Verson deutete einem Diener, Jeremia ein Glas Wein zu reichen. „Setzt Euch bitte zu uns und erzählt von Eurer Anreise. Gab es Probleme an den Brücken oder in Eurem Territorium?“
„Es gab Ausschreitungen an den Grenzen einiger Territorien. Wir mussten zuerst das Problem an der cavalanischen Grenze klären, bevor ich zu Euch kommen konnte“, erklärte Jeremia.
Ich hatte fast vergessen, wie gut er aussah und wie angenehm seine Stimme klang, trotz allem spürte ich auch die Anspannung in seiner Stimme. Ich blickte zu Narissa und sah, wie sie nach ihm schmachtete und ihn begierig anstarrte. In meinem Inneren wuchs die Eifersucht.
Während seiner Unterhaltung mit Verson schaute Jeremia immer wieder zu Narissa hinüber, aber ich erkannte keine Gefühlsregung in seinem Gesicht. Ich konnte nicht feststellen, was er fühlte, wenn er sie anblickte, er hatte sein Gesicht unter Kontrolle. Eigentlich wusste ich ja, dass er sie nicht liebte, aber dass er überhaupt hier war, bereitete mir Sorge. Würde er die Verbindung mit Narissa eingehen, um Galan zu retten? Hoffentlich war er nicht deswegen gekommen.
Er war vornehm, chic, extravagant gekleidet, schwarze Hose, schwarzes Hemd, silbergraue Krawatte und schwarzes Jackett. Ich spürte, wie Schmetterlinge in meinem Bauch kribbelten und die Sehnsucht mich erfasste. Ich rückte noch näher an ihn heran und setzte mich auf die Lehne seines Stuhls. Als hätte er mich gespürt, drehte er sich zu mir um. Wir waren uns so nah, dass sein warmer Atem meinen streifte. Mein Herz schlug schneller. Er wirkte verwirrt, wandte sich aber nach kurzer Zeit wieder dem Gespräch zu. Was passierte hier? Meine Hand näherte sich langsam seinem Gesicht. Ich musste ihn unbedingt berühren und strich ihm sanft über seine Wange. Es war seltsam, dass ich ihn fühlen konnte, seine weiche Haut. Ich konnte auch sein Herz spüren, das sich meinem Rhythmus anzupassen schien.
Gleichzeitig hob auch er seine Hand und legte sie auf meine. Nicht wirklich, denn sie glitt durch meine hindurch. Jetzt wirkten beide Hände ineinander verschmolzen. Seine wunderschönen blauen Augen weiteten sich.
In meinen Träumen hatte ich nie zuvor andere Menschen spüren können, sie waren einfach durch mich hindurch gelaufen und ich durch sie, ohne das etwas passierte.
Mitten im Satz hörte er auf zu sprechen. Er fühlte mich, so wie ich ihn, dessen war ich mir sicher, nicht körperlich aber es war ein Gefühl von Erwartung und Vorfreude, das sich im Inneren langsam ausbreitete. Plötzlich strömten seine Gedanken wie eine Flut in mich ein. Ich konnte sie ganz klar und deutlich hören, als ob er sie mir selber leise ins Ohr flüsterte. Nie zuvor hatte ich so etwas empfunden, und es überwältigte mich. Jeremias Gefühle waren ein Meer von Aufruhr: Traurigkeit, Resignation, Verlangen, Mut und Hingabe. Doch die Resignation stand im Vordergrund und seine Hilflosigkeit ließ mich erschaudern. Seine Traurigkeit füllte meine Augen mit Tränen. Ich hätte alles darum gegeben, ihn aus diesem Tief zu befreien und ihm klarzumachen, dass er nicht alleine ist. Ich glaubte, dass seine Seele in diesem Moment die meine streifte.
Langsam ließ er seine Hand sinken; unsere Hände lösten sich voneinander. Ich wusste, was er tun würde. Ich wusste es und mein Herz schmerzte.
„Verson, würdet Ihr mir erlauben, mit Eurer Tochter alleine zu sprechen?“ Auf Jeremias Bitte hin nickte der Herrscher wohlwollend. Jeremia blickte Narissa an. „Würdest Du mich bitte auf die Terrasse begleiten. Wir müssen miteinander sprechen.“
Sie lächelte ihn an und erhob sich. Er ergriff ihre Hand und gemeinsam schritten sie durch die Menschenmenge zu einem Seitenflügel, wo zwei hohe Türen zur Terrasse führten.
Ich folgte ihnen. Sie gemeinsam zu sehen, Hand in Hand, schmerzte mich. Sie lehnten sich an das Geländer. Wenn Jeremia mit mir hier alleine gewesen wäre und nicht mit Narissa, hätte ich diesen Ort sehr romantisch empfunden. Das machte alles noch viel schlimmer.
Die Terrasse befand sich im ersten Stock des Hauses. Unter der ihr erstreckte sich eine gigantische Parkanlage mit sorgfältig angelegten Zierteichen, Spazierwegen und Blumenbeeten. Ich konnte das Ende der Anlage nicht erkennen, so groß war sie, atemberaubend prachtvoll. Das Orchester