Ich kleidete mich eilig an, entschuldigte für ein paar Stunden mein Fernbleiben vom Amte und eilte zur Wohnung meiner Braut. Ich fand das Tor verschlossen, und als auf mein wiederholtes Läuten niemand erschien, dachte ich sie seien ausgefahren. Der Hausbesorger könnte ja leicht im Hofe beschäftigt sein, wo er die Glocke nicht hörte. Ich beschloß am Nachmittage zur gewöhnlichen Stunde zu kommen.
So tat ich auch. Der Hausbesorger öffnete, machte erstaunte Augen und sagte, ich müßte ja doch wissen, daß die Herrschaften abgereist seien. Ich erschrak, tat aber, als sei ich von Allem unterrichtet, und verlangte nur Franz, den alten Diener, zu sprechen. Der erzählte mir denn auch haarklein, daß Alle, Alle abgereist sei'n, nachdem gestern nachmittag eine merkwürdige Szene sich abgespielt hätte.
»Ich stand«, so sprach er, »hier im Vorraum, putzte die Tafelbestecke, als ein Frauenzimmer heruntergekommen und elend eintrat und mich ersuchte, sie zu Fräulein Hedwig zu führen. Natürlich gab ich nicht nach, man muß die Leute doch erst kennen ...« Ich nickte eifrig. Mir kam ein Gedanke ... »Na und kurz und gut«, fuhr der schwatzhafte Alte fort, »sie machte auf meine Weigerung hin solange ein Geschrei und Gezeter, bis der gnädige Herr heraustrat. Den bat sie nun und beschwor, sie bringe wichtige Nachrichten. Er nahm sie in sein Cabinet. Eine Stunde blieb sie drin. Eine Stunde, gnädiger Herr! Dann kam sie heraus, küßte dem gnädigen Herrn die Hand ...«
»Wie sah sie aus?« unterbrach ich ihn.
»Blaß, mager, häßlich.«
»Groß?«
»Recht groß.«
»Augen?«
»Schwarz, auch die Haare.« Der Alte schwatzte noch weiter. Ich wußte genug. Alle Worte des entsetzlichen Briefes wurden mir klar: Verpflichtungen! ... Bitterer Groll regte sich in mir. Ich ließ den Diener stehen und stürzte hinab. Ich lief durch die Straßen bis zu meinem Hause. Vor dem Tor standen ein paar Leute beisammen. Männer und Weiber. Sie sprachen heftig und leise. Ich stieß sie rau beiseite. Dann drei Treppen hinan ohne Atemholen. Ich mußte zu ihr, ihr sagen ... Ich wußte nicht was ich sagen würde, aber ich fühlte, daß mir die rechte Zeit die rechten Worte leihen werde. ...
Auch auf der Treppe begegnete ich Männern. Ich achtete ihrer nicht. Oben. Ich riß die Tür auf. Heftiger Carbolgeruch drang mir entgegen. Ein hartes Wort erstarb mir auf den Lippen. Da lag sie auf den grauen Linnen des Bettes in bloßem Hemde. Den Kopf weit zurück, die Augen geschlossen. Die Hände hingen schlaff. Ich trat näher. Sie zu berühren wagte ich nicht. Mit den klaffenden Lippen und den unterlaufenen Augenlidern machte sie ganz den Eindruck einer Ertrunkenen. Mich schauerte. Ich war allein im Zimmer. Die scheidende, kalte Sonne beschien den schmutzigen Tisch den Bettrand. ... Ich beugte mich zu dem Weibe. Ja, sie war tot. Die Farbe des Gesichtes war bläulich. Ein übler Geruch ging von ihr aus. Und ein Ekel erfaßte mich, ein Abscheu ...
Die goldene Kiste
Es war Frühling. Selig lächelte die Sonne vom durchscheinenden, tiefblauen Himmel, selten aber verirrten sich ihre Strahlen bis zu dem Zwischenstocke jenes Hauses in der schmalen Seitengasse. Wenn einmal ein Lichtschimmer sprühend durch die kleinen Scheiben drang und auf die getünchte Rückwand des bescheidenen Zimmers huschende Kreise warf, so kam er gewiß schon aus zweiter Hand, er ward nämlich zurückgeworfen von irgend einem Fenster des gegenüberliegenden, hohen Hauses. Um so mehr freute sich der Kleine, der an dem Fenster des Zwischenstockes Tag für Tag spielte, über das muntere Treiben der zuckenden, lichten Flecke an der Wand und sprang empor und haschte nach ihnen und lachte dabei so aus voller Seele, daß selbst in das traurige Gesicht seines Mütterchens sich ein Widerschein dieses Lachens stahl.
Ein Jahr kaum war sie Witwe. Mit dem Tode des teuren Gatten brach auch der mäßige Wohlstand zusammen, den er durch seine Arbeit begründet hatte. Sie mußte die geräumige Wohnung mit diesem Zimmer vertauschen, und durch der eigenen Hände Mühen die wenigen früher ersparten Groschen mehren, um sich und vor allem ihrem Kinde, dem kleinen, fünfjährigen Willy, das Notwendigste nicht versagen zu müssen. Was Wunder, wenn dieses Kind jetzt ihren ganzen Trost ausmachte!
Eben hob sie die matten Augen von der Arbeit und betrachtete mit liebevollem, innigem Blick den Kleinen, wie er, das frische Gesichtchen auf die fleischigen Fäustchen gestützt, am Fenster lehnte.
Heute war es indessen nicht das Spiel der Sonne, das ihn so sehr beschäftigte, daß er sogar sein Pferdchen, welches auf dem Fensterbrett umgestürzt war, nicht beachtete. Heute ging da draußen etwas Ungewöhnliches vor. Drüben im Hause war neulich ein Gewölbe leer geworden. Ein Tuchhändler hatte seinen Verkaufsraum in eine andere Straße verlegt, und seither hatte man dort geputzt, gescheuert, und hatte zum großen Vergnügen des Knaben die Bretter, welche die beiden Schaufenster des Nachts und Sonntags verdecken sollten, erst abgeschalt, dann schmutzig gelb und endlich mit tiefschwarzer, schöner Farbe bestrichen. Hatte schon das das Interesse Willy's wachgerufen, so kannte heute sein Entzücken keine Grenzen mehr, als hinter den glänzenden Scheiben dort drüben goldene und silberne Kästchen und Kästen, alle mit sechs Kanten, nicht sehr hoch und bald länger, bald kürzer, auftauchten. Und nun als die Männer gar einen kleinen ganz goldenen Kasten, auf dem zwei schöne, wunderschöne Englein knieten, in das eine Auslagefenster emporgehoben, da konnte er sich nicht enthalten, in die Händchen zu klatschen.
»Mutter, Mutter sieh doch, sieh! Was ist das? dieses liebe, kleine Kästchen mit den zwei Englein drauf?«
Und er war nicht wenig erstaunt, als die Mutter, die aufgestanden war, gar nicht lachte, als sie die hübschen glänzenden Kistchen erblickte.
Nein, eine Träne trat sogar unter den geröteten Liderrändern hervor.
»Was ist das?« wiederholte zaghaft und in kleinlautem Tone das Kind.
»Siehst du, Willy«, sagte die Mutter ernst und fuhr mit dem Taschentuch leicht über die Augen, »da hinein in diese Truhen, da legen die Leute die Menschen, die der liebe Gott wieder zu sich nimmt von der Erde Große und Kleine.«
»Dahinein?« flüsterte der Knabe, während seine Blicke noch immer mit Wohlgefallen auf dem Schaufenster ruhten.
»Ja«, fuhr die Mutter fort, »auch den Papa haben sie in solch eine Truhe ...«
»Aber«, unterbrach sie der Kleine, dessen Gedanken noch bei der ersten Erklärung weilten, »warum nimmt denn der liebe Gott kleine auch zu sich. Die müssen wohl sehr brav sein, wenn sie so bald in diese schöne Kiste kommen und dann im Himmel gleich Englein sein dürfen? Nichtwahr?«
Die Mutter umfaßte ihr Kind innig und herzlich.
Sie kniete nieder und schloß mit einem langen Kusse die frischen Lippen. Der Kleine fragte nicht mehr. Er wandte sich rasch wieder dem Fenster zu und blickte auf die großen Auslagescheiben. Ein glückliches vergnügtes Lächeln strahlte auf seinem Gesichtchen.
Die Mutter aber saß wieder über ihre Arbeit gebeugt.
Plötzlich aber schaute sie auf.
Tränen rollten über ihre bleichen Wangen.
Sie ließ den Stoff sinken, faltete die Hände und sprach leise mit bebender Stimme: »Lieber Gott, erhalte mir ihn!«
Eine dunkle, sternenlose Septembernacht. In den Zimmern des Zwischenstockes war es still. Nur das Ticken der Wanduhr vernahm man und das Ächzen des Kindes, das dort vom Fieber gerüttelt im kleinen Bettchen sich wälzte. Die Mutter beugte sich über den armen Willy.