Ich mampfe mein Müsli und starre aus dem Fenster. Es hat in der Nacht etwas geregnet und nun zieren Nebelschwaden die Felder hinter unserem Haus. Wenn ich diese Szene noch eine Weile beobachten könnte, würde sicher ein Reh vorbeilaufen. Doch es ist Mittwoch und diese Tatsache räumt mir leider nicht mehr Zeit ein als an den restlichen Tagen der Woche.
Nach dem Zähneputzen belege ich mir flink ein Brot und gebe meinen Eltern einen flüchtigen Kuss. Fenja wartet bestimmt schon an der Ecke, denn sie ist im Gegensatz zu mir immer sehr pünktlich.
Wir schlendern die Straße vor bis zum Rathaus und setzen uns an der Bushaltestelle vor der Schule auf eine alte Bank. Sie hat nicht mehr alle Latten und man muss höllisch aufpassen, um sich keinen Schiefer einzuziehen. Gleich wird der Bus vorfahren und den alltäglichen Trubel ins Rollen bringen. Wir genießen die Ruhe vor dem Sturm. Das machen wir schon seit der siebten Klasse so. Jeden Morgen sind wir die Ersten hier und atmen gemeinsam die noch so jungfräuliche Luft des Tages. Keiner kann sie uns nehmen. Wir sitzen einfach nur schweigend nebeneinander. Heute muss ich diese Tradition allerdings brechen, um nicht vor Aufregung zu platzen.
»Letzte Nacht hatte ich einen irren Traum.« Bitte, Bitte, Bitte – lach mich nicht aus. »Ich war in einem riesigen Gebäude, welches sie ›Akademie‹ nannten, trug einen potthässlichen Overall und wurde zusammen mit vierzehn weiteren Freaks in einem gläsernen Zimmer belehrt. Ein extrem gutaussehender Lehrer erzählte uns etwas von ›Ihr seid die Auserwählten‹ und alle anderen schienen diesen Quatsch zu glauben.« Ich berichte ihr von Caris, Frau Prof. Dr. Adaliz Pfefferhauser und dem unfairen Fakt, dass ich heute Morgen viel zu früh aus dieser absurden Traumwelt gerissen wurde.
»Klingt ja irre, Roya. Ich wusste schon immer, dass du zu Höherem berufen bist!« Fenja boxt freundschaftlich auf meinen Arm und grinst wie ein Breitmaulfrosch. Sie verarscht mich – natürlich. Aber dieser Traum war so intensiv und nah. Ich habe immer noch den Duft der Mandelbäume in der Nase und spüre das weiche Leder des Rucksacks zwischen den Fingern.
»Wie sah der ›sexy Lehrer‹ denn aus?«, stichelt Fenja weiter. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, den perfekten Freund für mich zu finden und ist stets auf der Suche nach sachdienlichen Hinweisen meinerseits. Jetzt bekommt sie die Faust in den Arm und wir müssen beide anfangen zu kichern. Glücklicherweise unterbricht der herannahende Bus unser Gespräch, bevor ich rot werden und ihr peinliche Details verraten kann.
Heute ist ›Tag der Orientierung‹ und es haben sich unzählige Offizielle aus Midden in der Schule eingefunden, um uns unsere Perspektiven vorzustellen. Einmal im Jahr haben alle Schüler der elften Klassen die Möglichkeit, sich Vorträge anzuhören, an Workshops teilzunehmen oder sich zum Einzelgespräch mit einem der Zuständigen zu verabreden. Vor zwei Wochen waren uns bereits die Listen für die Anmeldung ausgeteilt worden und somit ist das heutige Programm keine Überraschung mehr. Ich höre zuerst eine Einführung in Soziologie und Sozialpädagogik. Sollte ich diese Veranstaltung unbeschadet überstehen, widme ich mich danach der Medizin und letztendlich der Kunst. Im Anschluss an das ganze Spektakel wird uns das Prozedere der bevorstehenden Elevenauswahl erläutert. Alle sieben Jahre haben wir ›Polarjahr‹, das politische Ereignis schlechthin. Ich gehöre zu den Glücklichen, die im kommenden Wahljahr genau das richtige Alter haben, um an den Auswahltests teilzunehmen. Das erzählt man uns zwar schon seit der Geburt, aber ehrlich gesagt habe ich mich nie für Politik interessiert. Zeit, das zu ändern, schließlich liegt, laut Moreno, genau da meine Bestimmung.
Eine vollschlanke Beamtin mit Schamhaarfrisur hat am Lehrerpult im Klassenzimmer der 11/1 Platz genommen und legt unzählige Broschüren von Hochschulen und anderen Ausbildungsstätten in Fächerform aus. Wir sind circa vierzig Schüler im Raum. Die Bänke wurden am Rand gestapelt und somit ist genug Platz für die doppelte Anzahl an Schülern. Vorwiegend Ökos und Leute mit chronischem Helfersyndrom sitzen mit Bleistift und Papier bewaffnet da und starren Löcher in die Decke. Die Ersten fangen an, künstlich zu husten, um der Dame in vorderster Front ein Startsignal zu geben – zwecklos – dass Gelassenheit zu den typischsten Eigenschaften einer Beamtin gehört, dürfte doch allen bekannt sein.
Ich öffne meinen Haarknoten und beginne kleine Zöpfe zu flechten. Sie werden nicht halten, doch sie vertreiben die Zeit. Eins ist sicher, in Morenos Unterricht könnte ich auf solche Spielereien getrost verzichten.
»Willkommen, liebe Schüler, zum Tag der Orientierung. Ich freue mich über Ihr zahlreiches Erscheinen und hoffe, Sie gehen nach diesen fünfundvierzig Minuten gut informiert in die nächste Veranstaltung.« Fünfundvierzig Minuten? Ihre einschläfernde Stimme klingt jetzt schon wie eine Einladung zum Wegnicken. Leider haben wir keine Tische vor uns, um ein kurzes Nickerchen zu halten. Das haben die so geplant, diese hinterhältigen Halunken. »Ich werde Ihnen die Notwendigkeit der sozialen Berufe verdeutlichen und Sie mit dem Begriff ›Berufung‹ vertraut machen. Nächstenliebe und selbstloses Engagement sind die ersten Stufen auf der Leiter zum Sozialarbeiter, Erzieher, Heilpädagogen oder Streetworker.« Der Text stammt aus einer Broschüre, welche sie im Anschluss austeilt. Entweder sie glaubt, wir seien des Lesens nicht mächtig oder ihr würde Nachhilfe in ›Rhetorik‹, wie Prof. Pfefferhauser so schön sagte, gut bekommen.
In der letzten halben Stunde stellt sie uns in mehreren Diagrammen die unterschiedlichen Berufsgruppen vor und fragt ab, für welchen Zweig wir uns interessieren. Ich für meinen Teil habe herausgefunden, dass ich so auf gar keinen Fall die nächsten fünfzig Jahre bis zur Rente verbringen möchte und spare mir jeglichen Kommentar.
Zwei Mitschülerinnen verabreden sich im Anschluss mit Frau – ich hab mir nicht einmal ihren Namen gemerkt – zu einem Einzelgespräch. Streber, schießt es mir in den Kopf. Die beiden Scheinheiligen aus der 11/5 werden sicher ihr gesamtes Geld den Armen spenden und abgeschieden in einer Waldhütte leben. Mir wird schlecht bei der Vorstellung von so viel Nächstenliebe und sozialem Engagement. Ha – es ist doch etwas hängengeblieben.
Ich schleiche mich auf den Gang und halte Ausschau nach Fenja und Tarik, welche sich der Philosophie hingegeben hatten. Ich entdecke sie, an eine Säule gelehnt und mit Broschüren bewaffnet.
»Und, wie war es? Habt ihr eure Wahl bereits getroffen?«, frage ich die beiden und blicke in vier verdrehte Augen.
»Ich hatte angenommen, das sei die Veranstaltung mit dem geringsten Geräuschpegel und der sicherste Ort für ein Schläfchen. Aber nein, Pustekuchen. Wir waren nur drei Schüler aus der 11/5, einer aus der 11/3, Fenja und ich.« Tarik greift sich an die Stirn und rauft seine Haare. »Dieser Typ hat uns die ganze Stunde Fragen über die philosophischen Tiefen der Welt gestellt und rundherum abgefragt. Ich bin fix und fertig und es ist noch nicht einmal neun Uhr.« Er täuscht einen Ohnmachtsanfall vor und fällt Fenja in die Arme, die ihn gerade noch halten kann. Herr Jakob, unser Klassenlehrer, gesellt sich zu uns und zieht ein ernsthaft besorgtes Gesicht.
»Ist mit Tarik alles in Ordnung?«, fragt er und sieht ehrlich betroffen aus.
»Ihm hat die Philosophie wohl ein wenig zugesetzt«, entgegnet Fenja, »aber er wird in zehn Minuten wieder völlig hergestellt sein, keine Sorge, Herr Jakob.« Beruhigt verschwindet er zur nächsten Schülergruppe und wir können uns vor Lachen kaum noch halten. Tarik sollte sich ernsthaft mit Schauspielerei beschäftigen oder zum Zirkus gehen – nur bitte keine Clownschule. Clowns finde ich gruselig. Die Mehrzahl von ihnen hat auch fernab der Manege eine rote Nase und man kann sie meilenweit gegen den Wind riechen – nichts für Tarik!
Die Pause ist um und alle Schüler verteilen sich neu auf die vorbereiteten Räume. Nächster Punkt: Medizin. Ein wenig in Rheas Hemisphäre hineinschnuppern. Dieser Beamte ist deutlich kompetenter und auch der Kunstworkshop kann sich sehen lassen. Ich bin trotzdem froh, dass ich nicht gleich morgen eine Entscheidung treffen muss, sondern noch ein paar Monate frei und ungebunden sein darf.
Ein Signal ertönt und alle Schüler werden in die Aula gebeten.
Wo sind nur die anderen? Ich warte eine Weile, bis der Gang fast vollständig leer ist. Als ich ein Kichern hinter der Säule vernehme, ist meine