»Dürfte ich eventuell zu ihm? Ich weiß…«, doch Tariks Mutter legt mir beschwichtigend die Hand auf die Schulter und nickt.
»Natürlich, Roya! Bitte verzeih, dass wir es dir nicht eher angeboten haben.«
In Tariks Zimmer angekommen, klappt mir buchstäblich die Kinnlade herunter. Fenjas Schilderungen waren geschönt und werden dem Bild, welches ich jetzt vor mir sehe, nicht annähernd gerecht. Ich erkenne meinen Freund kaum wieder. Mir wird übel. Wie kann ein kerngesunder siebzehnjähriger Junge in kurzer Zeit so abbauen? Sein Gesicht hat eine aschgraue Farbe angenommen und dunkle Ringe umranden die geschlossenen Augen. Ein Schlauch ziert den dünnen Hals und er versinkt in einem Meer aus Maschinen. Es riecht nach Anspannung, Angst und Traurigkeit der Besucher, gemischt mit dem sterilen Geruch des Desinfektionsmittels. Durch den Kabelsalat ist es schwierig, überhaupt an ihn heranzukommen und ich brauche eine Weile, um den Weg an das Bett zu finden. Ich nehme seine schlaffe Hand und halte sie fest. Immer und immer wieder betrachte ich meinen Freund von oben bis unten und hoffe, dass dies nicht unser Abschied ist.
Ich sitze bestimmt zwanzig Minuten friedlich neben ihm und lasse all unsere gemeinsamen Erlebnisse vor meinem inneren Auge ablaufen. Möglicherweise spürt er die Verbindung und die Gefühle, die sich in mir breitmachen. Freude, Abenteuer, Zusammenhalt – die Liste ist lang. Ich kann von Glück reden, einen so tollen Freund zu haben und wünsche mir aus tiefstem Herzen, ihn bald wieder Witze reißen zu hören.
Als Rhea das Zimmer betritt, wende ich mich mit einem traurigen aber dankbaren Lächeln zu ihr.
»Sag nichts, ich kann mich noch nicht verabschieden. Ich halte seine Hand, ich sehe ihn atmen und höre sein Herz schlagen. Es ist noch Zeit.« Sie nickt. Ich drücke ihm einen Kuss auf die Wange und lasse unfreiwillig los.
»Bis bald, Tarik.«
Tag 7
»Liebe Schüler, in der heutigen Lektion wird es um folgende Frage gehen: Wer sind Sie und noch viel wichtiger: Wer wären Sie gern? Selbst- und Fremdbild gehen häufig getrennte Wege und dies soll sich für Sie ändern.« Fräulein Navrotilova hakt per Tablet die Anwesenheit ab und lässt anschließend aus Versehen ihren Touchpen fallen. Sie geht langsam in die Knie, um ihn aufzuheben – ein Bild für die Götter. Ihr Minirock ist so eng, dass er bei jeder Bewegung weiter nach oben rutscht, doch sie bleibt cool und genießt. Selten schenken die Jungs einer Dozentin so viel Aufmerksamkeit. Ich riskiere einen unauffälligen Blick in Tams Richtung. Leider hängen ihm seinen Locken tief in die Augen. Die Grübchen und die gespitzten Lippen verraten ihn jedoch. Männer sind alle gleich. Keiner kommt ohne ein Schmunzeln aus, wenn auch nur der Funke einer Möglichkeit besteht, Eliska Navrotilova unter ihren schwarzen Lederrock zu gucken. Wir Mädchen verhalten uns still und lächeln im Verborgenen. Erste Lektion gelernt: Nutze deine Vorzüge!
»Ich hoffe, auch die Damenwelt hat jede meiner Bewegungen genaustens beobachtet. Ein kurzer Rock oder ein tiefes Dekolleté sind die schärfsten Waffen einer Frau. Sie müssen nur lernen, diese selbstsicher zu tragen.« Kuno pfeift durch seine riesige Zahnlücke und die anderen stimmen in ein aufforderndes Grölen ein.
Ich fühle mich beobachtet und hoffe im Innersten, dass es ein ganz bestimmtes Augenpaar ist, welches auf mir ruht. Seit unserer ›Partnerarbeit‹ im Translabor schwebe ich ein paar Zentimeter über dem Boden, sobald ich in Tams Nähe komme. Wenn er spricht, beginnen meine Ohren zu wachsen. Wenn er im Unterricht in eine Notlage gerät, dreht sich mir der Magen um. Wenn er mit anderen Mädchen redet, schaltet die Atmung auf Turbogang und sobald unsere Blicke einander begegnen, spielen die Schmetterlinge in meinem Bauch verrückt. Ich weiß, es ist völlig übertrieben, so starke Gefühle für einen Jungen zu haben, mit dem man kaum ein Wort gewechselt hat. Ich kann nicht einmal sagen, ob er mich wahrnimmt oder einfach nur ein netter Typ ist. Abwarten und Tee trinken. Peinliche Zettelchen werde ich vorerst nicht schreiben. Ich bleibe unauffällig und genieße die kleinen Freuden dieser Fantasieromanze.
Meine Hoffnung auf Beachtung bleibt leider unbegründet. Tam hat nur Augen für seinen Ärmelbund, an dem er geschickt einen überflüssigen Faden entfernt. Kein schmachtender Blick also – zu schade. Doch wie Navrotilova sagte: ›nutzt eure Vorzüge‹. Möglicherweise sollte mein Mauerblümchenkostüm ein wenig aufgepimpt werden. Die Overalls sind dafür da, weibliche Reize zu verstecken – jetzt fahren wir andere Geschütze auf. Die Jungs sollen betteln, dass uns die Stifte aus Versehen aus den Händen fallen. Sobald ich Tam am Haken habe, kann ich wie eh und je das nette Mädchen von neben an sein, um ihn für mich zu gewinnen. Oh Mann, ich klinge schon wie Chantal aus irgendeinem Kitschroman.
»Meine Herren, nehmen Sie bitte an den Seiten Platz und öffnen Sie in ihrem Startmenü die Steckbriefe Ihrer werten Mitstreiterinnen.« Ihr kehliger Akzent mit dem rollenden ›R‹ klingt einfach hinreißend.
»Ein jeder enthält ein Foto und oberflächliche Angaben über Augen-, Haar- und Hautfarbe, Größe, Gewicht und…«
»Gewicht?«, kiekst Ebba etwas zu laut. Sie bemerkt diesen Fehler und spricht im Flüsterton weiter. »Was wird das hier? Eine Versteigerung? Die Navrotilova hat leicht reden, mit ihren sechzig Kilo bei ein Meter achtzig Körpergröße. Ich weigere mich, mich diesen pubertierenden, peinlichen Jünglingen zum Fraß vorwerfen zu lassen.« Ebba verschränkt die Arme und dreht sich seitlich, um ihre Wut zu verbergen. Ich verstehe ihren Standpunkt. Ebba ist mit Abstand die größte in der Klasse und hat auch das ein oder andere Kilo zu viel auf den Hüften. Eine dunkle Bobfrisur umrandet ihr wirklich hübsches Gesicht und die fast schwarzen Augen wirken freundlich. Sie ist ein echter Kumpel und immer für einen Spaß zu haben. Leider ändert dies rein gar nichts an ihrer jetzt so misslichen Lage.
»Ladies, bitte ins Hinterstübchen. Die Herren fordere ich hiermit zu konzentriertem Arbeiten auf. Sehen Sie die Unterlagen durch und behandeln Sie die Informationen mit dem nötigen Respekt. Ein kleiner Denkanstoß: die Steckbriefe gibt es natürlich auch mit Ihren Fotos.« Mit diesen Worten dreht sie sich um und folgt uns ins Versteck.
Hinter der Glaswand wird nun die Tür zum ›Hinterstübchen‹ geöffnet. Die Beschreibung Hintersaal trifft es wohl eher. An der Decke verlaufen Schienen, welche voller Kleidungsstücke hängen. Alles ist in durchsichtige Schutzhüllen gepackt und sieht nagelneu aus.
Eine junge Frau in Schlabberpullover und quietschgrünen Leggins steht am Ende der Schiene und ist mit einem langen Stab bewaffnet. Sie hat dunkelrotes Haar, zu einem lockeren Dutt gedreht, und trägt große goldene Creolen in den Ohren.
»Meine Damen, das ist Dunja, unsere Fashionqueen. Sie wird Ihnen heute lediglich bei den Reißverschlüssen zur Hand gehen oder die Kleiderkreise bedienen. Soll heißen: Sie sind auf sich allein gestellt – vorerst. Für meinen ersten Eindruck ist es wichtig, dass Sie keinerlei Tipps von Profis oder Ihren Freundinnen annehmen. Ich möchte die ungeschliffenen Diamanten« Sie stockt, als ein lauter Knall zu hören ist. Als sie sich umdreht, bemerken wir den Bildschirm über der Tür. Er zeigt in Grautönen die Situation im benachbarten Klassenraum. Kuno liegt, alle Viere von sich gestreckt auf dem Laufsteg und hält sich die Nase. Was auch immer er gerade angestellt hat, Frau Navrotilova findet das ganz und gar nicht witzig. Sie drückt einen Knopf neben der Tür und holt tief Luft.
»Wenn die Herrschaften meinen, ich hätte weder Augen noch Ohren im Kopf, dann haben Sie sich getäuscht. Erledigen Sie Ihre Aufgaben. Wenn Sie damit fertig sind, verhalten Sie sich still. Ich bin in wenigen Augenblicken bei Ihnen, um weitere Anweisungen zu erteilen. Bis dahin verbitte ich mir jedwede Störung.« Sie rückt ihren akkuraten Pony mit der weißen Strähne gerade, glättet das schwarze, kinnlange Haar und setzt erneut ihr zuckersüßes, etwas arrogantes Lächeln auf. »Entschuldigen Sie, wo waren wir?«
Als Fräulein Navrotilova den Raum verlassen hat, betätigt Dunja einen Schalter und die gigantische Kleiderstange setzt sich in Bewegung. Berge an Röcken, Kleidern, Jacken und Blusen rollen auf uns zu und kreisen uns ein. Als die Maschinerie stoppt, werden die Schutzhüllen in die Bügel gesaugt und geben die Klamotten frei. Wie die Hühner fallen die Mädchen darüber her und ich sehe die zerkratzten