Karls Bewegungsablauf beim Rückzug funktionierte perfekt.
Fast. Denn als er mit dem Rücken voran aus dem Zug treten wollte, stieg er mit dem rechten Fuß in die schmale Spalte zwischen Waggon und Bahnsteigkante. Mit einem zügigen Ruck konnte sich Karl befreien. Unglücklicherweise flutschte sein Fuß dabei aus dem Sportschuh, der eingeklemmt hängen blieb!
Karl hatte keine Zeit nach ihm zu fassen – er musste schnellstens flüchten, davonrennen, mit bloßem rechten Fuß!
Hektisch hastete er die steilen Stiegen empor.
Irgendetwas stimmte nicht mit seiner Motorik, denn mindestens viermal schlug er mit der großen Zehe schmerzhaft in die vertikale Seite der Steintreppe.
„Aufhoit'n! Den durt ob'n! Mit den braunen Pullova! Aufhoit'n! Des is a Kindaschända!“
Zum ersten Mal im Leben war Karl dankbar für die mäßig entwickelte Zivilcourage seiner Mitmenschen. Anstatt sich ihm in den Weg zu stellen, glotzten sie kuhäugig auf den dicken Fahrgast.
Danach verfiel dieser in wüstes Fluchen; zuletzt konnte Karl noch seinen unheilandrohenden Ruf hören: „Woat’, Di krieg i no! Du Sau!“
Karl erreichte das Straßenniveau. Der Pullover!! Das Hauptidentifizierungsmerkmal!! Weg damit!
Er riss ihn von der Schulter, stopfte ihn in einen der zahlreich vorhandenen Mistkübel – die Sonnenbrille folgte dem Pulli.
So, jetzt würde ihn niemand mehr erkennen!
Da! Plötzlich stellte sich ihm ein unsympathischer Kleinkrimineller in den Weg! Doch was trug er in der Hand und hielt es Karl unter die Nase? Gott! Diese Blechmarke war der Ausweis für Zivilkontrolleure.
Überlegen grinsend sagte der Mann: „Da schau hea! Is' des net da Kindaschända?“
Es gibt Augenblicke im Leben, die in ihrer unfassbaren Bedrohlichkeit die Zeit stillstehen lassen. Dabei gelingt es uns so kompromisslos im Hier und Jetzt zu sein, dass daneben der Dalai Lama zum Rastelbinderbuben herabsinkt; und der Buddha wird ausg’strichen aus der Mythologie. Dann sind wir offen für Inspiration und Intuition - und es fallen uns Antworten ein, die unter normalen Umständen nie den Weg zum Sprechorgan finden.
Als der gewaltbereite Kontrolleur also sagte: „Da schau hea!“ – und die Frage hinzufügte: „Is des net da Kindaschända?“ – und als Karl bemerkte, dass er über die Finger der rechten Hand, die er aus der Jackentasche zog, einen Schlagring gestülpt hatte – da sprach es aus ihm:
„Wieso? Ich hab' doch keinen braunen Pullover über die Schultern!“
Der Kontrolleur stutzte, sah Karl genauer an und sagte: „Ah jo.“
Dabei begann er mit offenem Mund mechanisch zu nicken und dieses Nicken hielt noch an, als Karl schon längst an ihm vorbeigegangen war.
Karl beeilte sich nun, von der U-Bahnstation wegzukommen.
Allerdings gab es da ein großes Problem: den fehlenden Schuh. Schleunigst musste Ersatz her, mit nur einem Schuh fühlte er sich so auffällig wie ein bunter Hund.
Zum Glück lag ein gerade neu eröffneter Schuhdiskonter am Weg.
Karl betrat humpelnd die riesige Verkaufshalle.
Nachdem er zunächst der Gefahr entronnen war, wurde er nun der schrecklichen Schmerzen inne, die ihm seine blutiggeschlagenen Zehen bereiteten. Er begab sich in den Bereich mit Sportschuhen aller Art und setzte sich dort auf einen der Hocker.
Er zog den Socken vom rechten Fuß. Was er zu sehen bekam, ließ ihn seine Schmerzen noch deutlicher spüren: das Nagelbett der großen Zehe war blauviolett eingefärbt. Die Vorderseite blutig geschlagen. Dies traf auch auf die zweite und dritte Zehe zu. Außerdem war der Straßenstaub durch den Socken gedrungen, sodass der Fuß abstoßend schmutzig erschien.
„Darf ich vielleicht behilflich sein?“ Die misstrauische Frage kam aus dem Mund einer Verkäuferin mittleren Alters, die plötzlich vor Karl stand.
„Jössas, was hamma denn da? Haben Sie sich aufg’schlagen? Pfui Teufel! Warten‘S, ich bring g’schwind ein Pflaster und was zum Desinfiszieren! Und Sie bleiben einstweilen sitzen und machen nix dreckig!“
Sie eilte davon und Karl bedauerte, dass sie so überhaupt nicht sein Typ war. In der Hose fand er ein gebrauchtes Taschentuch. Darauf spuckte er diskret und entfernte damit den ärgsten Schmutz. Dann blickte er um sich, zur Vergewisserung, dass ihn niemand beobachtet hatte. Aber da war niemand. Trotz der sensationellen Eröffnungsangebote herrschte wenig Betrieb.
Mit Schaudern erinnerte er sich an seine Kindheit, als er Bekleidungsstücke nur in Begleitung der Eltern kaufen konnte. Natürlich waren nicht Karls Wünsche entscheidend für die Wahl der Produkte, sondern der Geschmack und die rationalen Erwägungen von Vater und Mutter.
Im Alter von etwa 12 Jahren war er besessen vom Wunsch nach einer ´Levis´-Jean. Im Fernsehen hatte er eine Dokumentation über Jeans gesehen; und er spürte, dass er erst mit einer 'Levis 501er' so richtig er selbst sein könne.
Er sammelte sogar Prospekte und heftete diese in seinem Zimmer an die Wand; langhaarige Motorradtypen in Wüstenlandschaften waren da abgebildet. In deren Gesellschaft befanden sich stets knackige Frauen mit ebenso langen Haaren und eng anliegenden Levis- Jeans, die ihre prachtvollen Popos so richtig zur Geltung brachten. Bemerkenswert war, dass die Frauen meist auch Hemden aus Jeansstoff trugen; dabei waren die Druckknöpfe derselben immer erst ab Nabelhöhe verschlossen, sodass – vor allem bei leicht seitlichem Aufnahmewinkel – der Blick sich an zwei Dritteln des wohlgeformten Busens weiden konnte. Die Brustspitzen waren dummerweise von Jeansstoff bedeckt. Allerdings lugte gelegentlich der kreisrunde Vorhof' um die Nippel aufwühlend hervor.
Mit freudvoller Bestürzung hatte er auch zur Kenntnis genommen, dass die 15-jährigen Mädchen seiner Schule neuerdings derartige Levis-Kombinationen trugen.
Und in seinen Tagträumen sah er sich in Levis-Jeans und Hemd die Schule betreten, und malte sich plastisch die Momente während der großen Pause aus....wenn er am Schulhof in seiner Montur lässig schlendernd die Aufmerksamkeit der begehrenswerten 15-jährigen auf sich ziehen würde....wie ihn diese zu sich winken und er mit seinen trockenen Bemerkungen ihr Interesse steigern würde....wie sie ihn auffordern würden, mit ihnen doch am Samstagnachmittag ins Kino zu gehen.....wie er dann mit der schönsten von ihnen im Kino zu schmusen beginnen würde.....wie er im Dunkel des Kinosaales die Druckknöpfe ihres Jeanshemdes öffnen würde....ihre Brüste streicheln würde....wie er schließlich die Knöpfe ihrer Jeans geschickt öffnen würde....und wie er mit seinen Fingern ihren Intimbereich liebkosen würde......und dass er schließlich nach dem Kino in ihrer Wohnung (die Eltern wären gerade für zwei Tage verreist gewesen) in ihrem herrlich duftenden Bett den fantastischen, grandiosen, unüberbietbaren ersten Geschlechtsverkehr seines Lebens haben würde.....und sie ihm in Dankbarkeit wimmernd beteuern würde, dass er der wunderbarste Mann der Welt sei.
Jedoch stimmt die Wirklichkeit selten mit Tagträumen überein und Karl musste sich mit den Härten der Realität abfinden: Seine Eltern pflegten nämlich ihre und seine Bekleidung ausschließlich bei immer demselben Damen- und Herrenausstatter zu kaufen.
Bedient wurden sie stets vom selben Verkäufer - einem Herrn Baumgartner.
Als Karl und seine Eltern diesmal das Geschäft betraten, lehnte Herr Baumgartner mit lässiger Eleganz neben der Kassa. Wie immer trug er ein kariertes Sakko englischer Art mit Doppelschlitz.
„Guten Tag, Herr Baumgartner!“ sagte Karls Mutter mit übertrieben freundlicher Heiterkeit.
„Wie schön, dass Sie uns wieder beehren. Küss’ die Hand gnädige Frau!“ antwortete dieser mit der Verbindlichkeit eines Nachtclubbesitzers. Dann küsste er seiner Mutter tatsächlich die Hand. Danach begrüßte er die beiden Herren. Während des allzu festen Händedrucks blickte er seinem Gegenüber mit übertriebener Seriosität geradewegs in die Augen. Dabei schlug er immer ganz diskret die Hacken zusammen.