Und überall gab es Händler. Händler mit heißen Würstchen, mit »Buletten« aus prima kernfettem Roßfleisch, das Stück 'nen Sechser, mit Schlipsen (der janze Adel trägt meine Binder!), mit Seife und Parfüms. An einer Ecke prügelten sich ein paar Kerle, umringt von einem Kreis von Zuschauern, die, trotzdem schon Blut floß, weiter höchst amüsiert blieben. Mir, dem Juristensohn, fiel zuerst das völlige Fehlen von »Blauen« auf, von Schutzleuten also.
In diesen engen Gassen schien ein aller Ordnung und Gesetzmäßigkeit entzogenes Leben zu herrschen. Bisher hatte ich fest daran geglaubt, daß, was in der Luitpoldstraße galt, mit geringen, durch die Stufen reich und arm bedingten Abweichungen überall galt. Hier sah ich nun, wie der eine Kerl sich über den zu Boden gestürzten Gegner warf, der kaum noch bei Besinnung war, und ihm unter dem johlenden Beifallsgeschrei der Zuschauer immer wieder den blutigen Kopf gegen das Pflaster schlug.
Es wurde uns unheimlich, wir machten, daß wir davonkamen. Aber an der nächsten Straßenecke hielt uns ein Kaftanjude an, flüsternd, in einem kaum verständlichen Deutsch schlug er uns vor, ihm unsere Wintermäntel zu verkaufen. »Zwei Mork das Stück! Und eurer Momme seggt ihr, ihr hebbt se verloren ...«
Dabei fing er schon an, mir meinen Mantel aufzuknöpfen.
Mit Mühe riß ich mich los, Fötsch und ich fingen an zu laufen. Aber das war nicht richtig. Denn nun fing die Jugend an, auf uns aufmerksam zu werden. Ein großer Junge, den ich angerannt hatte, rief: »Du bist wohl von jestern übrig jeblieben –?!« und gab damit das Signal zu einer Jagd auf uns.
Wir rannten, was wir konnten, durch ein Gewirr von Gassen und Sträßchen, ratlos, wann und wo dies einmal ein Ende nehmen würde. Eine ganze Horde stürzte schreiend, lachend, hetzend hinter uns her. Ein großer Kerl, durch den Lärm aufmerksam geworden, schlug nach Hans Fötsch. Aber der lief weiter, nur seine Mütze fiel verloren auf das Pflaster. Bei meinem Annähern zog eine Frau, die vor ihrer Tür an einem Strumpf strickte, sachte die Nadel aus der Strickerei und stach damit nach mir, mit der gleichgültigsten Miene von der Welt. Nur ein Sprung rettete mich ...
Ich lief, was ich laufen konnte, wie ich noch nie gelaufen war. Ich wußte, hier galten weder Beruf noch Ansehen meines Vaters etwas, das doch in der Luitpoldstraße alle respektierten, hier galt es auch nichts, daß ich ein Gymnasiast war ... Hier galten jetzt nur meine Beine. Ich! Ich selbst!
Und ich ließ die Beine laufen, immer einen halben Schritt hinter Hans Fötsch lief ich, mit keuchender Brust, mit Stichen in Herz und Brust, rannte immer weiter ... Und so wirklich auch die Schmerzen waren, so wirklich die Verfolger uns auch immer näher rückten, so unwirklich kam mir doch alles vor. Es war wie ein Schreckenstraum, es war doch unmöglich, daß ich, der Sohn eines Kammergerichtsrates, hier in der Kaiserstadt Berlin um meine heilen Glieder, meine Kleider lief. Ich brauchte nur anzuhalten, die Verfolger heranzulassen, und alles würde sich mit einem Lächeln aufklären. Gefahr gab es nur in den Büchern, bei Karl May, Cooper und Marryat, nicht hier in Berlin, nicht für uns ...
Gottlob lief ich trotz all dieser Unwirklichkeitsgefühle ganz wirklich weiter, und schließlich fand denn auch Hans Fötsch durch Zufall einen Ausgang aus dem Gewirre des Scheunenviertels. Aufatmend hielten wir auf einer breiten Straße an, in der jetzt schon die Gaslaternen brannten.
Wir lehnten uns in einen Hauseingang und spürten mit Zufriedenheit das langsamere Schlagen des Herzens, das ruhigere Atmen der Brust. Nach einer langen Zeit sagte schließlich Hans Fötsch mit einem tiefen Seufzer: »Na, weißt du –!«
Ich stimmte ihm bei. »Ich hätte nie gedacht, daß es so etwas geben könnte! Und noch dazu in Berlin!«
»Das war das Scheunenviertel«, erklärte Fötsch. »Vater hat mir davon erzählt. Da trauen sich Große nicht mal bei Tage rein. Dadrin leben bloß Verbrecher.«
Dies mußte ich als Juristensohn besser wissen als der Arztsprössling.
»Das ist ausgeschlossen, Fötsch!« sagte ich. »Alle Verbrecher kommen immer gleich ins Gefängnis oder Zuchthaus. Ich will meinen Vater mal fragen, ob es so etwas überhaupt geben darf.«
»Deinem Vater sag lieber nichts, daß wir da drin gewesen sind. Sonst macht er Klamauk, und mit unserm Spazierengehen ist es alle!«
»Ich werd' so tun, als hätt' ich davon nur gehört.«
»Laß das lieber bleiben!« warnte mich Fötsch. »Du verquatschst dich bei sowas immer. – Und überhaupt ist es jetzt höchste Eisenbahn, daß wir nach Hause kommen. Was ist die Uhr? Halb sieben! Und ich sollte um sechs zu Haus sein!«
»Ich auch! Komm, laß uns laufen, Fötsch!«
»Laufen?« fragte er. »Was denkst du denn, wie lange wir laufen müssen, von hier bis nach Haus? Doch mindestens zwei Stunden! Und ich weiß den Weg auch gar nicht. Nein, wir fahren mit der Elektrischen, wir werden umsteigen müssen. Hast du noch Fahrgeld?«
»Ja, hab' ich noch.«
»Ich auch. Na, dann wollen wir mal sehen. Da vorne an der Ecke scheint eine vorbeizukommen. Mensch, heute Abend hagelt es aber bei uns. Vor acht sind wir nicht zu Haus!«
»Ich sag einfach, ich bin bei euch gewesen, und eure Uhr hat gestanden.«
»Und ich sag's so von euch, daß du Bescheid weißt. – Na, was kommt denn da für eine Elektrische? Mensch, Hans, mit der können wir bis Potsdamer Platz fahren! Los, rein!«
Aber ich stieg nicht ein.
»Warte einen Augenblick«, sagte ich fürchterlich aufgeregt zu Fötsch. »Steig nicht ein! Bitte, nicht! Wir nehmen die nächste! Bitte diese nicht!«
Denn mit mir war etwas ganz Seltsames geschehen. Als ich diese Elektrische näherkommen gesehen hatte, die nicht so aussah wie »unsere« Elektrischen im Westen, mit einem tief herabgezogenen Führerstand, der vorne ein Gitter hatte zum Auffangen Unvorsichtiger, die dem Wagen vor die Räder kamen – da war mir im selben Augenblick eine Notiz in der Zeitung eingefallen, die ich vor ein oder zwei Tagen gelesen hatte. Irgendwo in Berlins Osten oder Norden war eine Elektrische in Brand geraten, es hatte einen Toten und mehrere Schwerverletzte gegeben. Und nun plötzlich, beim Heranfahren dieses Wagens, war ich blitzartig von der Erkenntnis durchdrungen, daß es solch ein Wagen gewesen war, der gebrannt hatte, daß alle Wagen dieses Typs in Brand geraten würden, und daß wir keinesfalls mit einem derartigen Wagen fahren dürften ...
Weiß es der Himmel, was da plötzlich in meinem Kopf vorgegangen war! Bis dahin war ich ein wohl schwächliches, oft krankes Kind gewesen, aber von einer solchen Zwangsidee hatte noch nie jemand etwas bei mir bemerkt. Ich wußte natürlich auch jetzt nichts davon. Ich war fest überzeugt, daß ich recht hatte, daß ein Wagen dieser Bauart verbrannt war, daß alle Wagen dieser Bauart verbrennen würden, daß es mir verboten war, in ihm zu fahren ...
Und mit der eindringlichsten Beredsamkeit setzte ich dies alles Hans Fötsch auseinander. Schon beim Reden übertrieb ich. Ich behauptete, eine genaue Beschreibung des verunglückten Wagens in der Zeitung gelesen zu haben, ich wies auf die Merkmale hin: den herabgezogenen Führerstand, das Auffanggitter. Ich behauptete weiter, eine Warnung vor Wagen dieses Typs gelesen zu haben. Ich behauptete, der Wagen eben sei fast leer gewesen. Und in dem Augenblick, da ich diese Behauptungen aufstellte, glaubte ich auch schon an sie. Ich glaubte fest daran, dies gelesen, dies gesehen zu haben. Kein Mensch hätte mich noch in diesem Glauben erschüttern können.
Und so eindringlich war dieser Glaube, daß ich Hans Fötsch fast überzeugte. Er willigte ein, noch eine Elektrische abzuwarten, vielleicht würde die andere Formen zeigen. Aber auch sie kam mit einem Schutzgitter und herabgezogenen Führerstand. Wir ließen sie vorbei. Aber Hans Fötsch lag schon in einem schweren Kampf, was besser sei: noch später zu kommen oder die Fahrt zu wagen. Als auch die nächste Elektrische die gleiche Bauart wie ihre Vorgängerin aufwies, riß er sich von mir los und sprang auf.
»Hier fahren