Auch die damalige Gesellschaft in der Provinz zeigte vielfach die Spuren dieses leisen Wechsels der Geschicke. Sie hatte nicht nur ihre gewaltigen Schicksalsschläge; die Fälle, wo die beliebtesten jungen Dandys damit endigten, sich mit einem hergelaufenen Weibe und sechs Kindern in einer Mansardenkammer niederlassen zu müssen, sondern auch jene weniger in die Augen springenden Wechselfälle, welche die Grenzen des gesellschaftlichen Verkehrs beständig verrücken, und den Menschen fortwährend das Bewusstsein ihrer Abhängigkeit von einander aufdrängen. Einige sanken ein wenig, andere arbeiteten sich herauf; Leute, die ihre Muttersprache nicht richtig zu sprechen verstanden, wurden reich und stolze Herren kandidierten als Abgeordnete von Wahlflecken; einige sahen sich von politischen, andere von kirchlichen Strömungen fortgerissen und fanden sich in Folge dessen vielleicht in wunderlicher Gesellschaft, während die wenigen Personen oder Familien, welche inmitten all dieser schwankenden Verhältnisse felsenfest standen, sich doch auch trotz ihrer Solidität allmählich umgestalteten und den zwiefachen Wechsel ihrer selbst und derer, welche sie beobachteten, zu erfahren hatten. Munizipalstädte und ländliche Kirchspiele knüpften langsam neue Verbindungen an, – langsam, wie die alten Strümpfe, in welchen früher die Ersparnisse aufbewahrt zu werden pflegten, den Sparbanken wichen und wie die Anbetung der alten Guinea verschwand – während Squires und Baronets und selbst Lords, welche einstmals in untadeliger Abgeschlossenheit gelebt hatten, sich eine nähere Berührung mit dem bürgerlichen Elemente zu Schulden kommen ließen. Auch neue Ansiedler kamen aus verschiedenen Grafschaften herbei, einige mit beunruhigend neuen Fertigkeiten, andere mit einem beleidigendem Vorsprung an Schlauheit.
In der Tat ging in Alt-England eine ähnliche Bewegung und Vermengung der Menschen vor sich, wie sie uns Herodot berichtet, welcher, bei seiner Erzählung dessen, was ehedem geschehen war, es auch angemessen fand, das Schicksal eines Weibes zum Ausgangspunkte zu nehmen; freilich war Jo, als ein offenbar durch schöne Geschenke verlocktes Mädchen, das Gegenteil von Fräulein Brooke und bot in dieser Beziehung vielleicht mehr Ähnlichkeit mit Rosamunde Vincy dar, die einen ausgezeichneten Geschmack für Toilette und jene nymphenartige Gestalt, jenes reine Blond des Haares und des Teints hatte, welches für die Mannigfaltigkeit des Faltenwurfes und der Farbe der Stoffe den freiesten Spielraum ließ.
Aber diese Dinge machten nur zum Teil ihren Reiz aus. Sie galt ihrer Zeit allgemein für die ausgezeichnetste Schülerin in Frau Lemon's Schule, der ersten Schule in der Grafschaft, wo Alles, was eine vollendete weibliche Bildung zu erfordern schien, selbst bis zu dem Benehmen beim Besteigen und Verlassen des Wagens gelehrt wurde. Frau Lemon hatte Fräulein Vincy immer als Beispiel aufgestellt: keine Schülerin, pflegte sie zu sagen, übertreffe diese junge Dame an Wissen und Schicklichkeit des Ausdrucks, während ihre musikalischen Leistungen ganz ungewöhnlich seien. Wir können nichts für die Art, wie die Leute sich über uns aussprechen, und wahrscheinlich würden Julie und Imogen, wenn Frau Lemon es unternommen hätte, diese Heldinnen zu schildern, nicht als poetische Wesen erschienen seien. Der erste Anblick Rosamunden's würde den meisten Beurteilern genügt haben, jedes durch Frau Lemon's Lobeserhebungen erweckte Vorurteil zu zerstreuen.
Lydgate konnte nicht lange in Middlemarch sein, ohne sich dieses angenehmen Anblicks zu erfreuen, ja, nicht ohne die Bekanntschaft der Familie Vincy zu machen; denn obgleich Herr Peacock, dessen Praxis er gegen eine Entschädigung übernommen hatte, nicht ihr Arzt gewesen war (da Frau Vincy das herabstimmende System, nach welchem dieser seine Patienten behandelte, nicht liebte), so hatte Lydgate doch viele Patienten unter ihren Verwandten und Bekannten. Denn wo hätte es in Middlemarch Jemanden von irgend welcher gesellschaftlichen Bedeutung gegeben, der nicht mit den Vincy's verwandt oder doch wenigstens bekannt gewesen wäre? Sie waren von Alters her Fabrikanten und machten seit drei Generationen ein angesehenes Haus, so war es wohl natürlich, daß viele Heiraten zwischen Mitgliedern der Familie Vincy und mehr oder weniger für »gentil« geltenden Nachbarn stattgefunden hatten. Herrn Vincy's Schwester hatte eine reiche Partie durch ihre Verheiratung mit Herrn Bulstrode gemacht und dieser hatte, als ein nicht in der Stadt geborener Mann von etwas dunkler Herkunft, nach der Meinung der Leute wohl daran getan, sich mit einer echten middlemarcher Familie zu verbinden; andererseits hatte Herr Vincy eine Gastwirtstochter, mithin ein wenig unter seinem Stande geheiratet. Aber auch dieser Verbindung fehlte das versöhnende Element des Geldes nicht; denn Frau Vincy's Schwester war die zweite Frau des reichen alten Herrn Featherstone gewesen und war schon vor Jahren kinderlos gestorben, so daß für ihre Neffen und Nichten Hoffnung vorhanden war, das Herz des Witwers zu gewinnen.
Und nun traf es sich, daß Herr Bulstrode und Herr Featherstone, zwei der bedeutendsten Patienten Peacock's, beide aus verschiedenen Gründen seinen Nachfolger, dessen Erscheinen viele Erörterungen und sogar Parteiungen hervorgerufen, besonders gut aufgenommen hatten. Herr Wrench, der Arzt der Familie Vincy, hatte schon sehr bald nach Lydgate's Auftreten Veranlassung gehabt, von der berufsmäßigen Discretion desselben gering zu denken, und es gab kein Gerücht über Lydgate, welches nicht im Vincy'schen Hause, wo viele Gäste ein- und ausgingen, verhandelt worden wäre. Herr Vincy war im Ganzen geneigter mit allen Leuten gut Freund zu sein, als eine bestimmte Partei für oder gegen Jemanden zu nehmen; aber es lag kein Grund für ihn vor, sich mit der Bekanntschaft eines neu angezogenen Mannes zu übereilen.
Rosamunde wünschte im Stillen, ihr Vater möge Herrn Lydgate einladen. Sie war der Gesichter und Gestalten, an die sie von jeher gewöhnt war, der verschiedenen unregelmäßigen Profile, der charakteristischen Gangart und Ausdrucksweise der jungen Middlemarcher, welche sie schon seit ihren Knabenjahren kannte, überdrüssig. In der Schule war sie mit vornehmeren Mädchen zusammengewesen, für deren Brüder sie sich nach ihrer Überzeugung lebhafter würde haben interessieren können, als für diese unvermeidlichen jungen Middlemarcher. Sie zog es vor, ihrem Vater ihren Wunsch nicht mitzuteilen, und er seinerseits hatte, wie gesagt, keine Eile mit der Sache. Ein Alderman, dem die Mayorswürde bevorsteht, muß auf Erweiterung seiner Mittagsgesellschaften gefaßt sein, für jetzt aber saßen noch Gäste genug an seinem wohlbesetzten Tische.
Auf diesem Tische standen die Reste des Familienfrühstücks oft noch lange, nachdem Herr Vincy mit seinem zweiten Sohne ins Geschäft gegangen, und nachdem Fräulein Morgan in ihren Lektionen der jüngeren Kinder im Lehrzimmer schon weit vorgerückt war. Diese Reste warteten auf den Faulenzer in der Familie, der jede Art von Unbequemlichkeit, die er Anderen bereitete, geringer fand, als die aufzustehen, wenn er gerufen wurde.
So war es auch an einem Morgen jenes October, in welchem wir Herrn Casaubon seine Besuche auf Tipton-Hof machen sahen. Obgleich das Frühstückszimmer ein wenig überhitzt war, was den Wachtelhund veranlaßt hatte, keuchend eine entferntere Ecke aufzusuchen, war doch Rosamunde aus einem bestimmten Grunde länger als gewöhnlich mit ihrer Stickerei sitzen geblieben, welche sie von Zeit zu Zeit mit einem kleinen Schauer in den Schoß legte und mit einer Miene zaudernder Ermüdung betrachtete. Ihre Mama, welche eben von einem Gange in die Küche zurückgekehrt war, saß an der anderen Seite des kleinen Arbeitstisches mit einem Ausdrucke vollkommneren Seelenfriedens, bis sie, als die Uhr sich wieder zu schlagen anschickte, von ihrer Handarbeit, einer Spitze, die sie mit ihren runden Fingern ausbesserte, aufblickte und die Glocke zog.
»Klopfen Sie doch noch einmal an Herrn Fred's Tür, Pritchard, und sagen Sie ihm, daß die Uhr halb elf geschlagen hat.«
Frau Vincy sagte das, ohne daß der strahlende Ausdruck guter Laune in ihrem Gesichte, in welches ihre fündundvierzig Jahre weder perpendikuläre noch horizontale Falten gegraben hatten, im mindesten darunter gelitten hätte, und legte dann, indem sie ihre rosa Haubenbänder zurückschob, ihre Handarbeit in den Schoß, um sich der bewundernden Betrachtung ihrer Tochter zu überlassen.
»Bitte Mama,« sagte Rosamunde,