Es war zu spät.
Wäre er nur geblieben.
Bloß diese eine Nacht noch, dann wäre es vorbeigewesen.
Ihn traf die Schuld, dass ...
Heiß liefen plötzlich Tränen seine Wangen hinunter. Er konnte es nicht verhindern. Das Salzwasser quoll einfach aus den Augen und brannte hässlich im offenen Fleisch der Schnittwunde. Es tropfte auf seine Kleidung. Fror fest in der Kälte.
Es war seine Schuld.
Dieser Fluch war seine Schuld.
Stets verletzte er die, die ihm nahe waren.
7
Es musste geschehen sein, kurz nachdem Zach die Wohnung verlassen hatte. Anders wäre die Zeit knapp geworden, selbst für einen Profi wie Enki.
Aber letztlich war es egal, wie er es getan hatte. Schlussendlich war es passiert und keine Macht der Welt konnte es ungeschehen machen. Alle Gebete und der feste Glauben an ihren Gott konnten sie nicht vor diesem Ende bewahren.
Sweet Molly war tot.
Die Einsatzkräfte der Polizei trugen ihre Leiche auf einer Bahre aus dem Hauseingang nach draußen. Um sie vor den neugierigen Blicken der Anwohner und der Schaulustigen am Straßenrand zu schützen, hatte ihr jemand ein weißes Laken übergeworfen, jedoch weichte der dünne Stoff an mancherlei Stelle blutrot durch. Sanft versuchten Schneeflocken sie zu bedecken.
Schwarz wie Ebenholz, weiß wie Schnee, rot wie ...
Zach führte den Gedanken nicht zu Ende.
Er stand etwas abseits der Zaungäste und beobachtete die Szenerie wie ein Traumgebilde. Irgendwie wollte sein Kopf nicht akzeptieren, dass sie nicht mehr da war. Ihr Leben war vorbei. Nie mehr konnte er mit ihr streiten, lachen, trinken. Ihre letzte gemeinsame Nacht kam ihm unwirklich vor. Bis heute hatte er eigentlich nicht an ihrer Sicherheit gezweifelt. Keiner hätte es je gewagt, die Hand gegen sie zu erheben.
Doch wegen ihm ... Weil er sie kannte, mochte. Sie starb, weil sie mit ihm in Verbindung stand. Sie starb, um ihm eine Botschaft zu senden.
Allerdings las er diese nicht.
Nachdem er seine Tränen im Schnee der Gasse vergossen hatte, ging er zurück zu Molly und fand sie in der Küche liegen. Noch warm, das Blut floss ihr aus der aufgeschnittenen Kehle und aus zig Messerstichen im Bauch. Bei Enkis gepriesener Schnelligkeit hatte sie nicht viel gemerkt. Das Blutbad hatte Armin für ihn bestellt. Nüchtern rief Zach die Polizei an und wartete still neben ihr, bis einer kam, ihn nach draußen führte und bat, auf den Einsatzleiter zu warten.
Der hätte viele Fragen an ihn.
„Was für eine Sauerei“, sagte jemand neben ihm und riss Zach zurück in die Gegenwart. Es war Detective Soi, der zuständige Beamte für den Hafenbezirk. Unnötigerweise hielt er ihm seine Marke vor. Dabei überraschte es Zach nicht, den Mann hier zu sehen.
„Rauchnächte“, schnalzte Soi mit der Zunge. „Ich fange an, den Winter zu hassen. So viel Wahnsinn im Hafen. Seit wir uns das letzte Mal sahen, haben meine Jungs drei Leichen geborgen ... und vier Menschen werden immer noch vermisst. Meine Frau muss schon die Berichte für mich mittippen, weil ich nicht mehr nachkomme. Zum Glück arbeitet sie auch bei uns, so bleibt die Sache intern.“
„Klingt tragisch“, murmelte Zach und rauchte eine von Mollys Zigaretten. Die wollte er nicht verkommen lassen und sie hätte wohl nichts dagegen gehabt.
„Tja, jeder hat so seine Probleme mit dieser Jahreszeit.
Kannten Sie das Opfer, Zach?“
„Flüchtig, mal mit ihr gegessen“, versuchte er seinen alten Scherz zu bringen, nur gelang es ihm nicht besonders gut. Sein Kopf begann zu schmerzen.
Auch Soi seufzte und fragte: „Soll ich das glauben?“
„Fein, ich kannte sie gut, okay?“, reagierte Zach impulsiver als erwartet. „Sehr gut sogar! Und ja, ich bin ihretwegen auch etwas von der Rolle! Stell dir vor, du würdest Mutter, Schwester, Frau und beste Freundin an einem verdammten Tag verlieren – obwohl du es hättest ändern können, wenn du einfach bei ihr geblieben wärst – dann hast du eine ungefähre Ahnung, wie beschissen es mir gerade geht!“
„Verstehe“, ging Soi einen halben Schritt von ihm auf Abstand, „sie muss Ihnen viel bedeutet haben. Vor allem, weil Sie darüber hinaus diese komische Kiezsprache einstellen.“
Bevor Zach erneut wütend werden konnte, setzte der Beamte nach: „Mein aufrichtiges Beileid.
Das sieht mir ganz nach einem Racheakt aus. Ein Denkzettel, wohl an Sie gerichtet.
Was haben Sie für Feinde, Zach?“
„Feinde, gegen die du und deine Streichholzsoldaten nicht ankommen“, gab er leise zu und strich sich durch die Haare. „Das ist meine Sache. Ich bin schuld an dem ganzen Mist, also muss ich ...“
„Wieso sind Sie schuld?“, fragte Soi verwirrt.
„Verstehst du nicht“, winkte Zach ab und machte kehrt.
„Zach! Was haben Sie jetzt vor?“, rief der Polizist ihm nach.
Ja, was habe ich vor? Er stoppte nicht, um dem Mann Rede und Antwort zu stehen. Er war müde und musste nachdenken. Der Anblick von Mollys Leichnam hatte ihn schwer getroffen.
Erstaunlich, wo er doch oft schon den Tod gesehen hatte. Wasserleichen, Frostleichen, Feuerleichen, verfault, verknöchert, abgenagt – aber mit Molly war das anders.
„Sie wissen, dass Selbstjustiz strafbar ist, oder?“, sprach Soi.
Natürlich. Aber das hier war der Hafen. Hier gab es andere Gesetze als in der Stadt.
Wer Blut forderte, würde seines fließen sehen, war da ein Sprichwort.
Selbstjustiz ... ja, warum nicht?
Seine alten Schmerzen weckten ihn wieder aus dem komatösen Schlaf.
Wo war er? Bei sich zu Hause. Bäuchlings lag er auf der alten Matratze, noch immer gekleidet wie für die Nacht bereit. Vom Duft des Weichspülers war nichts geblieben. Er roch nach Qualm und Alkohol, wie auch sonst.
Wer war bei ihm? Niemand.
Was hatte er getan? Eine nicht geringe Menge an Geld versoffen. Sogar für die heimische Trinkerei hatte er gesorgt. Neben ihm am Boden standen jedenfalls Flaschen herum, die vorher noch nicht vorhanden waren. Die meisten waren leer.
Hatte er Ärger gemacht? Er erinnerte sich schwach, irgendwem eine geknallt zu haben. Jedenfalls sprach der Schmerz in seinen Handknöcheln dafür. Wer es war und warum er es getan hatte, wusste er nicht mehr, aber Zach hatte sicher seine Gründe.
Was wurde aus dem Geld? Er griff sich in die Manteltaschen. Nur noch ein paar zerknüllte Scheine und wenige Münzen. Verdammt, wo hatte er den Rest verschleudert? ... Na ja, egal, das bisschen war besser als gar nichts. Zu viel Geld machte eh nur unglücklich, ha ha.
Der letzte Check fiel aus.
Klare Regeln, jeden Morgen. Wann hatte er angefangen, diese mentale Strichliste zu führen?
... Molly hatte es ihm geraten, weil er früher stets planlos war und sich nie merken konnte, was einst gewesen war und was gerade ist. Vergangene Kleinigkeiten konnten irgendwann wichtig erscheinen.
Sie hatte ihm auch das Pokern beigebracht. Ihn die erste Zeit über aufgenommen, bis er auf eigenen Beinen stehen konnte. Ihm den Hafen gezeigt und die richtigen Kneipen.
„Gottverdammt ...“, seufzte er, als diese ganzen alten Erinnerungen in ihm hochsprudelten. Prompt zuckte er zusammen, weil er einen Schlag von ihr erwartete mit dem Satz, er solle nicht über Gott fluchen. Bevor sein stiller Kummer ihm Tränen in die Augen drückte, nahm er eine der