Das Eisenzimmer. Markus Ridder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Ridder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738058857
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zu, die aus dem Schrank gerissen worden waren. „Was ist das denn?“ Er hob ein T-Shirt mit ausgefransten Ärmeln hoch, auf dem ein Totenkopf abgebildet war, statt der üblichen Oberschenkelknochen zeigte es ein Maschinengewehr und einen Baseballschläger im Hintergrund.

      „Ich glaube, das ist keiner, der nur mit der Modelleisenbahn spielen will.“, sagte Jenny.

      „Vermutlich nicht. Und was bedeutet das, was unter dem Totenkopf steht: C18?“

      „Keine Ahnung, vermutlich nichts Gutes. Ich schau mir mal die Unterlagen an, die da überall verstreut liegen, vielleicht finde ich ja dort etwas dazu.“

      Plossila nickte, durchstöberte weiter die Wäsche. Aus dem Schrank quoll ein ekelhafter Geruch, eine Mischung aus Schweiß und Mottenpulver. Er fragte sich, nach was sie hier eigentlich suchten? Plossila wusste, dass es immer gut war, wenn man einer bestimmten Frage nachging. Doch wie lautete ihre Frage? Wer ist Kenneth Middleman? Wer ist sein Mörder? Ja, das wüssten sie gerne, das wäre die Endfrage. Doch sich diese Frage gleich zu Beginn der Ermittlungen als leitende Frage zu stellen, wäre zu kühn. Damit würden sie einem Schachspieler gleichen, der mit seinem ersten Zug direkt den König attackieren wollte. Was also war die erste, die naheliegendste Frage?

      „Da ist dieser Typ hier in Deutschland und verbringt seine Zeit damit, diesen rechten Scheiß zu lesen“, schimpfte Jenny. „Ich würd‘ mal gerne wissen, was der hier in Deutschland vorhatte?“

      Warum war Kenneth Middleman in Deutschland? Und warum gerade hier, in Landsberg am Lech? Ja, dachte Plossila, das sollten sie einmal als Allererstes klären.

      „Das ist eigenartig, die Blätter sind alle unbeschrieben und die Ordner sind alle leer. Und schau hier ...“ Jenny hielt einen Aktenordner in die Luft. Sie stand im leichten Gegenlicht vor den Vorhängen, trug ein weißes, enges Top, darunter eine dunkelblaue Hose und flache Schuhe mit einer goldenen Schnalle. Ihre blonden Haare lagen auf ihrer Schulter, einige Strähnen waren ihr im Gesicht kleben geblieben. Im Zimmer staute sich die Hitze und sie schwitzte leicht, unter ihren Achseln hatten sich kleine feuchte Flecken gebildet. „An den Klammern hängen noch Papierschnipsel, irgendjemand muss das alles wahllos herausgerissen haben.“

      „Entweder hat dieser Jemand etwas Bestimmtes für sich gesucht. Oder er wollte nicht, dass wir etwas Bestimmtes finden“, sagte Plossila und ließ seine Hand in einen Kapuzenpulli der Marke Lonsdale gleiten. Etwas knisterte an seinen Fingerspitzen. Plossila stieß einen Grunzlaut aus.

      „Hast du was entdeckt, Plossila?“

      „Weiß ich noch nicht, erst mal schauen, was das ist ... Hm, scheint eine Rechnung zu sein, von einer Autovermietung hier in Landsberg am Lech. Denen sollten wir dringend mal einen Besuch abstatten.“

      „Vielleicht der Wagen, mit dem er auch an den Tatort gefahren ist. Kann ich mal sehen?“

      Plossila reichte ihr den Zettel und blickte sich im Zimmer um. Sie waren nicht gerade mustergültig vorgegangen. Wenn später die Spurensicherung kam, um sich noch einmal im Detail um das Zimmer zu kümmern, würden sie überall seine und Jennys Fingerabdrücke finden. Er würde eine Rüge von Krzysztof Skibinski bekommen, das konnte er schon einmal fest einplanen.

      „Adrian von Dost – hast du diesen Namen schon einmal gehört?“, fragte Jenny plötzlich.

      Plossila blickte auf und sah, wie sie die Quittung der Autovermietung in die Luft hielt. Auf der Rückseite erkannte er in krakeliger Schrift die Notiz des erwähnten Namens, darunter eine Handynummer. Er schwieg einen Moment, draußen röhrte ein Auto, es gab einen dumpfen Knall, das Knirschen sich verbiegenden Blechs. Er hörte einen Mann mit dunkler, heiserer Stimme schimpfen. Dann einen anderen mit deutlich hellerer Stimme, ein Teenager vielleicht.

      „Ja, den kenne ich.“

      2

      Der „Aegidienhof“ befand sich am äußersten Ende einer Stichstraße am nördlichen Stadtrand Kauferings. Das Haupthaus war von zwei Backsteingebäuden umrahmt, von der Straße aus war nicht ersichtlich, ob sie zu der Anlage gehörten oder ob es sich um Nachbargebäude handelte. Jenny schritt auf das Haupthaus zu, das man betont modern angelegt hatte. Die gesamte Konstruktion bestand aus Glas und Beton, beim Dach schien der Architekt seine künstlerische Freiheit besonders kompromisslos ausgelebt zu haben: Es wirkte wie verkehrt herum aufgesetzt und glich so einem offenen Buch, das auf dem Haus lag. Nicht jedermanns Geschmack, dachte Jenny, aber ihr musste es ja auch nicht gefallen. Sie senkte den Blick, stieß die Eingangstür auf und betrat ein helles Vestibül, belebt von einer großzügigen Couchlandschaft. „Ich hole Sie um vier Uhr in der Wartezone ab“, hatte er am Telefon gesagt.

      „Wie erkenne ich Sie?“

      „Keine Sorge, ich werde Sie erkennen, so viel ist dort unten nicht los.“

      „Wie ist Ihr Name?“, hatte Jenny gefragt.

      „Lennert. Nennen Sie mich einfach Lennert.“

      Er hatte sich sympathisch angehört, irgendwie offen. Sie wusste nicht, warum, aber als sie die Nummer gewählt hatte, die ihr die brünette Kellnerin gegeben hatte, war sie von mehr Widerstand ausgegangen. Die Polizei war nicht überall willkommen. Vielleicht hatte es aber auch an dem schwierigen Gespräch im „Alten Hasen“ gelegen, dass sie nichts Gutes erwartet hatte. Auf jeden Fall war sie überrascht gewesen, dass sie sofort kommen konnte und nicht abgeblockt wurde. „Seien Sie jederzeit unser Gast“, hatte Lennert gesagt, „die Herrschaften freuen sich über jedes Gespräch. Die meisten zumindest.“

      Sie sah auf die Uhr: Fünf Minuten vor Vier. Sie konnte nicht behaupten, dass sie sich wohlfühlte. Trotz der warmen Farben, mit denen man die Inneneinrichtung gestaltet hatte, kam sie sich vor wie in einem Krankenhaus. Vielleicht lag es an diesem eigentümlichen Geruch, den die Wände verströmten: Desinfektionsmittel und die Dämpfe warmen Gummis, die man sonst nur von Turnhallen kannte. Sie schritt um die braunen Ledersessel herum, die auf einem hellgrünen Teppich lagen wie große, schlafende Tiere auf einer Weide. Wie beim Arzt stapelten sich überall zerfledderte „Lesezirkel“-Ausgaben. Sie überlegte, ob sie sich bei dem Automaten, der neben der Anmeldung stand, einen Kaffee ziehen sollte, doch verwarf sie den Gedanken. Lennart musste ja jeden Augenblick eintreffen. Sie sendete der Frau hinter dem Schalter ein Lächeln, doch die interessierte sich nicht für sie, sondern hielt den Kopf gesenkt und schrieb irgendetwas in ein Heftchen.

      Jenny betrachtete die großen gerahmten Fotografien an der Wand. Sie zeigten jeweils eine alte, pflegebedürftige Person und eine jüngere. Darüber war der Schriftzug des Altersheims eingelassen. Es wurde viel gelacht auf den Bildern, alt zu werden schien eine lustige Angelegenheit zu sein im „Aegidienhof“. Eine ältere Dame saß im Rollstuhl, wurde von hinten von einer jungen Frau umarmt. Beide hoben die Daumen und lächelten freudestrahlend in die Kamera. Eine Frau mit roten, kurzen Haaren und einem weißen Kittel schob einer Alten mit Lätzchen einen Löffel in den Mund, beide grinsten den Betrachter an. Eine Pflegerin reichte einem Herrn, dessen Beine in Arthrosestrümpfen steckten, eine blaue Tasse – beide lachten sich fast tot. Jenny wusste nicht, was sich in der Tasse befand, aber wenn es so gute Laune machte, wollte sie unbedingt auch so einen Drink.

      Jenny grinste und verbot es sich im selben Moment wieder. Über Alter und Tod machte man keine Scherze. Immerhin war sie noch nicht so weit, dass sie Witze riss, wenn sie eine Leiche am Tatort inspizierte, so wie Plossila und Isenbarth. Sie wusste gar nicht, was sie darüber denken sollte ...

      „Frau Biber?“

      „Ja“, sagte sie mechanisch und ließ sich aus ihrem Gedankengang reißen. Sie drehte sich auf den Fußballen um und blickte in das milchige Gesicht eines Hünen mit strubbeligem blondem Haar.

      „Lennart, wir hatten telefoniert.“

      „Natürlich, danke. Ja!“, sie gab ihm die Hand und blickte automatisch auf das kleine Schildchen an seiner Brust, um seinen Nachnamen zu erfahren. Doch da stand auch nur „Lennart“.

      „Die Herren freuen sich schon auf sie. Wollen wir?“

      Sie gingen über einen blitzblanken Linoleumfußboden, bis