Der Rausch jener Nacht und die Sehnsüchte, die damit erneut aufgestiegen waren, zerplatzten wie Seifenblasen und Lara seufzte.
Das hier war die Wohnung einer anderen.
Auch wenn seine Ehefrau seit knapp zwei Jahren tot war, lebte sie an diesem Ort weiter: in den Schränken, an den Wänden, den eingestickten Initialen überall – und in Johns Herz.
Hier gab es keinen Platz für sie – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Hier wäre sie nur eine Kopie, ein Puzzleteil, das nie richtig in den einzigen, freien Platz passen würde.
Ihr Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Wie zum Abschied vergrub sie noch einmal ihre Nase in der schwarzen Seide und trat dann schnell unter die Dusche. Das wohlig warme Wasser nahm sich ihrer Tränen an.
Auf einmal sehnte sie sich nach ihrem eigenen Zuhause, dem Wohnhaus der Müller. Sie hatte es renovieren lassen und dabei auch selbst viele Stunden liebevolle, aber auch schweißtreibende Handarbeit investiert. Die Zimmer, ihre Möbel, einfach alles dort spiegelte etwas von ihrer Persönlichkeit wider – ganz anders als hier, in Johns Wohnung. Und so edel und gemütlich es hier auch sein mochte, die Dunkelheit darin erinnerte sie fortwährend an ein Mausoleum.
Gott sei Dank war es ihr möglich, auch weiterhin die Sonne zu genießen, denn trotz gegenteiliger Mythen würde sie durch Johns Biss niemals zum Vampir werden. Und sein Blut, das er ihr vor ein paar Tagen in ihrem ohnmächtigen Zustand eingeflößt hatte, um ihr Leben zu retten, sorgte nur dafür, dass sich vorübergehend jede Zelle ihres Körpers regenerieren beziehungsweise neu wachsen konnte. Durch sein Blut würden ihr eine neue Niere ebenso wachsen wie ein Fingernagel. Nur eine Verletzung des Herzens war meist tödlich, genau wie bei Vampiren.
Kapitel 5
Nach dem Duschen hatte Lara sich wieder im Griff.
„Runter mit der rosaroten Brille. Sieh der Realität ins Auge“, murmelte sie während des Abtrocknens, „Jetzt werde ich erst mal diese Ara kennenlernen und dann ist John bestimmt wach und kann mich zur Mühle fahren.“
„Immerhin hab ich ihm seine Haut gerettet! Das ist er mir schuldig“, protestierte sie ohne Zeugen, als ihr leise Zweifel aufstiegen. „Er muss mich nach Hause lassen.“
Nach Hause – sie schluckte.
Nach allem, was sie zusammen erlebt hatten, kannte John noch nicht mal ihr Zuhause, ihr normales Leben. Aber vielleicht interessierte ihn das ja überhaupt nicht. Immerhin hatte er hier sein eigenes Leben, seine Freunde – und die Erinnerung an seine tote Frau.
Eine halbe Stunde später stand sie auf dem schier endlos langen Flur, der rechts und links um Ecken ins Nirgendwo abzweigte, und fühlte sich wie ein Idiot. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, wo diese Arabella überhaupt wohnte.
Ein kleines Mädchen mit erdbeerblonden Zöpfen und einem Plüschpuma im Arm hüpfte in diesem Moment um die Ecke und stoppte direkt vor ihr. Mit einem strahlenden Lächeln schaute die Kleine zu ihr hoch.
„Du bist bestimmt die Buchschreiberin.“
Das Mädchen wartete ihre Antwort gar nicht ab.
„Ich bin Alice und das hier ist Wildhearts kleine Schwester. Gehst du auch zu Ara frühstücken?“
Kaum hatte Lara Ja gesagt, griff Alice nach ihrer Hand und zog sie hüpfend hinter sich her.
„Du hast dich verlaufen, oder? Das ist mir am Anfang auch passiert. Das wird schon noch.“
Da Lara eh keine Chance hatte zu Wort zu kommen, ließ sie sich einfach mitziehen.
„Mama ist schon längst da, aber ich wollte noch mit Papa kuscheln.“
Endlich holte das Mädchen mal Luft zwischen ihren Sätzen.
„Wer ist denn dein Papa?“
„Der allerbeste Kämpfer, den es hier gibt, und der allerallergrusligste! Er hat nämlich eine Schlange im Gesicht.“
Mit gespielt finsterer Miene versuchte Alice, mit ihrer kleinen Kinderhand eine Furcht einflößende Schlange zu imitieren. Lara musste kichern.
„Können Buchschreiberinnen nicht ein bisschen schneller laufen? Ich bin nämlich ganz doll hungrig!“
„Doch, das können sie, vor allem wenn sie selbst fast vor Hunger sterben.“
Lächelnd fegte Lara mit dem kleinen Wirbelwind über die Flure.
Doch als sie darüber nachdachte, dass sie tatsächlich in einem Vampirnest zum Frühstück eingeladen war, kam ihr plötzlich alles so unwirklich vor.
Ihre Schritte wurden langsamer und Alice riss sich los, um ein paar Meter weiter, ohne anzuklopfen, durch eine Tür zu stürmen.
Arabella musste äußerlich eine ganz normale Frau sein, wenn auch mit ewiger Jugend, denn Vampire waren ausschließlich männlich. Aber sie fragte sich, ob auch Männer am Tisch sitzen würden – und Blut aus Kaffeetassen tranken – gruselige Vorstellung.
Und lebten hier alle ständig im Dunkeln?
Dann war da noch dieser seltsame Traum von einer Krankenschwester mit lila Haaren und einer Maschinenpistole, die ihr zur Toilette half und zu trinken einflößte …
Als sie beinahe die offene Tür erreicht hatte, war sie schon wieder so weit umzukehren. Doch da trat die seltsame Krankenschwester, diesmal allerdings ohne Maschinenpistole, auf den Flur heraus.
„Hi, Lara!“
Wow, also doch kein Traum! Beinahe wäre ihr der Mund offen stehen geblieben. Noch ehe sie Hallo sagen konnte, nahm die schlanke Frau mit dem Körper eines Victoria’s-Secret-Models, sie überschwänglich in den Arm, als wäre sie ihre beste Freundin.
„Herzlich willkommen!“
„Du bist also Arabella?“
John hatte recht, denn mit ihrer Art und den beiden lila-schwarzen Zöpfen, musste auch sie flüchtig an Pippi Langstrumpf denken.
„Nenn mich einfach Ara und komm endlich rein. Du musst ja halb am Verhungern sein, so wie dein Magen knurrt.“
Ara führte sie zu einer großen gemütlichen Wohnküche. Gott sei Dank mit Fenstern, durch die die Sonne schien! Ihre Beklemmung wegen der fensterlosen Flure von vorhin löste sich auf. Trotzdem blieb sie angesichts der Szene erst mal wie angewurzelt im Türrahmen stehen.
„Latte, Cappuccino oder stinknormaler Kaffee?“
„Ähm – Kaffee.“
An diesem großen, schön gedeckten Tisch würden sie gleich zu fünft frühstücken. Alva und eine Frau, deren Gesichtszüge und schwarze, gelockte Haare eine südländische Herkunft verrieten, saßen bereits und unterhielten sich gut gelaunt.
So etwas hatte sie sich an ihrem stets leeren Küchentisch auch immer gewünscht!
Auf der hübschen Tischdecke mit Miniblümchen präsentierte sich eine Silberplatte mit edelstem Käse und feinster Wurst. Wie sich nachher herausstellte, hatte jede etwas zum Frühstück beigesteuert: Von Alva, die skandinavische Wurzeln hatte, kamen der Räucherlachs und die Krabben, von Rose der spanische Serrano-Schinken. Ara, die sich aus Gewohnheit oft noch wie ein Model ernährte, hatte die Vielfalt mit selbst zubereitetem Obstsalat und frisch gepresstem Orangensaft ergänzt.
Das absolute Highlight war allerdings die Tischmitte. Dort thronte ein großer, neongrüner Plüschfrosch