„Und deshalb lassen jetzt auch alle Jo in Ruhe. Weil wir es ihm schuldig sind. Kapiert?“ Er sah Andy eindringlich an. Besser, wenn er jetzt ginge. Er warf noch ein Lächeln in die Runde und ging zum Ausgang.
Draußen atmete er auf. Er sollte wirklich so schnell wie möglich von hier abhauen, die hatten hier wohl alle was an der Birne. Er warf einen Blick in den Himmel. Die dunklen Wolkenberge waren näher gerückt. Er beschloss, weiter durch den Ort bis zu der auf dem Schild angekündigten Tankstelle zu gehen. Dort würde ihn sicher jemand mitnehmen. Zwei Pick-ups und ein klappriger Mitsubishi Pajero fuhren an ihm vorbei. Er ärgerte sich, dass er nicht gleich zurück zum Highway gegangen war, da hätte sicher gleich ein Auto für ihn angehalten.
Etwa fünfhundert Meter weiter sah er endlich das rot-gelbe Shell-Emblem zwischen den Hausdächern hervorragen. Dort würde er es versuchen; wenn er kein Glück hatte, konnte er immer noch zum Highway zurückkehren.
Die Tankstelle: ein Dach über zwei Zapfsäulen, eine schiefe Garage als Werkstatt mit einem winzigen Raum als Büro. Allmählich zweifelte Andy an Scottys Behauptung, er fände jemanden, der ihn nach Lambina mitnehmen könnte. Er sah in die Werkstatt, in der eine Hebebühne aufragte und eine lange Werkbank in wenigen Sekunden unter der Last ölverschmierter Werkzeuge zusammenzubrechen drohte. Erst dann bemerkte er neben dem Büro den Parkplatz, den Holden Kombi mit aufgeklappter Motorhaube und den Tankwart, der gerade Öl nachfüllte. Andy ging auf ihn zu.
„Ich muss heute noch nach Süden, wie komm ich hier weg?“
Der Tankwart im roten Overall schüttelte den letzten Tropfen Öl aus dem Kanister. Er war ein kräftiger Typ, etwa so groß wie Andy, aber breit wie ein Schrank.
„Brady“, sagte er, wischte die ölige Hand an einem Lumpen ab und streckte sie ihm entgegen. „Weiß vielleicht jemand, warte mal!“ Brady ging zur Fahrertür, stieg ein und ließ den Motor an.
„Musst du heut schon weg?“
„Bin schon lange genug hier!“
„Na ja, hast Recht, is’ ja nicht gerade aufregend. Mein Bruder und ich feiern heut ´ne kleine Party. Bist eingeladen.“ Brady legte den Gang ein. Seine Lippen ließen Andy an zwei Schläuche denken, und seine Nase war platt wie die eines Boxers.
„Was für `ne Party?“, fragt Andy.
„Wir feiern immer irgendwas. Kannst auch bei uns pennen. Haben ´n Häuschen da hinten.“ Brady deutete mit dem Daumen aus dem geöffneten Seitenfenster. Andy sah in die angegebene Richtung: kniehohes Gras, sonst nichts. Brady fuhr rückwärts und parkte ein paar Meter weiter vor der Werkstattmauer. Eine Party wäre gut. Auf der Mine gab es das nie. Und in Quilpie war es auch nicht aufregend. Außerdem könnte er dort schlafen. Am nächsten Morgen könnte er früh los und hätte den ganzen Tag.
„Hm. Danke, muss drüber nachdenken.“
„Tu das. Ich bin noch zwei Stunden hier.“
Er nahm sich vor, noch diese zwei Stunden zu warten. Und so hockte er sich an den Straßenrand. Ein Lastwagen mit Schotter auf der Ladefläche donnerte an ihm vorbei. Ab und zu kam Wind auf, fegte den Staub über den löchrigen Asphalt. Dann klang es, als regnete es Diamanten.
Shane
Das Zimmer roch nach Mottenkugeln und einem scharfen Putzmittel. Der grünliche Teppich sah so aus, dass ihm bei der Vorstellung graute, jemals darauf barfuß laufen zu müssen. Das einzelne Bett stand direkt an der Wand. Toilette und Dusche waren nachträglich eingebaut worden und mit einer Schiebetür vom Raum abgetrennt. Neben dem Bett war eine kleine Ablage an der Wand angebracht, gerade groß genug für die übliche Hotelbibel und einen Wecker. Gleich in der Ecke hinter der Tür stand ein Kühlschrank, den man nur bei geschlossener Zimmertür öffnen konnte. Er riss das Fenster auf. Musik von unten drang herauf. Schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite über dem Supergrocer, dem Lebensmittelladen, brannte Licht. Er nahm eine lange Dusche, legte sich ins Bett und hoffte, dass ihn der Schlaf bald überfallen würde. Er dachte an ein kaltes Bier, an Eliza Lee, erlebte noch einmal den Flug und sah wieder die Toten vor sich und glitt in einen merkwürdigen Halbschlaf.
Überall spielten sie Weihnachtsmusik, und in den Shopping Malls posierten langbärtige Nikoläuse in roten Mänteln mit Kindern auf den Knien. Es war Boxing Day und er hatte mit Steve zusammen Dienst. Schon seit einer Woche brütete die Hitze über der Stadt und dieser Abend machte keine Ausnahme. Kim war mit Pamela zu ihren Eltern nach Syndey gefahren, und er war froh, arbeiten zu dürfen. Sie hatten die Nachtschicht. Newfarm. Nicht unbedingt die ruhigste Gegend in Brisbane. Bis halb eins war alles relativ problemlos verlaufen. Eine Schlägerei zwischen einem eifersüchtigen Ehemann und einem Freund der Ehefrau in einer Pizzeria. Alle hatten mehr als genug getrunken. Die Männer kamen über Nacht in die Ausnüchterungszelle. Vorher waren sie von einer besorgten Nachbarin in eine Wohnung im Valley gerufen worden.
Als er mit Steve dort ankam, hatte ein Mann seine Freundin blutig geschlagen, das Aquarium zertrümmert, den Fernseher aus dem Fenster in den Vorgarten geworfen und noch ein paar andere unschöne Sachen angerichtet. Im Grunde aber war das nichts besonders. Dann aber bekamen sie jenen Anruf, den er seit fünf Jahren nicht vergessen konnte.
Die Zentrale schickte sie ein paar Straßen weiter, wo ein Mann, bewaffnet mit einem Messer, Amok lief. Shane erinnerte sich noch, wie er und Steve auf der Fahrt Witze über die Freundin eines Kollegen rissen. Der Mann hockte auf den Stufen vor dem Haus. Ein schlaksiger Weißer, der selbst im Sitzen noch riesig erschien. Er starrte ins Leere und murmelte als sie kamen:
„Ich war’s.“
Der Lichtstrahl von Steves Taschenlampe fiel auf den Briefkasten, aus dessen Öffnung der Griff eines Bowiemessers ragte. Shane zog es heraus. Bis zum Schaft klebte dunkles Blut daran. Shane ging ins Haus. Es war ein Mietshaus mit zwei Etagen. Er schaltete das Licht an und entsicherte die Pistole.
Die erste Zimmertür war verschlossen, die zweite stand einen Spalt offen. Er glaubte, ein leises Röcheln zu hören, es brannte kein Licht. Shane leuchtete durch den Spalt, konnte nichts erkennen und zwängte sich blitzschnell in den Raum. Dort drückte er sich an die Wand, die Pistole im Anschlag. Als er das Licht anschaltete, sah er auf ein blutiges Stück Fleisch. Der Mann atmete noch. Aus unzähligen Schnitten seines Körpers troff Blut, das in dunkelroten Flecken in den Teppich sickerte. Über Funk riefen sie die Ambulanz und machten sich auf den Weg nach oben. Die alten Holzstufen knarrten. Im oberen Stockwerk befanden sich drei Türen. Hinter der ersten lag das Bad, hinter der zweiten ein leerer Raum. Hinter der dritten Tür stand das, was ihn immer noch bis in seine Träume verfolgte. Zuerst starrte er in ihre aufgerissenen Augen, und eine Zehntelsekunde später auf eine blutige Höhle, deren Wände Muskeln und Sehnen bildete. Die Frau war so gut wie enthauptet. Für einen Augenblick sackten ihm die Knie weg. Er stützte sich auf eine Stuhllehne und kämpfte gegen die Übelkeit an.
Shane fuhr hoch. Dieselbe Übelkeit kroch wieder nach oben – er stürzte aufs Klo und übergab sich. Der Mann hatte seine Mutter ermordet, die ihn jahrelang gedemütigt hatte.
Andy
Das Haus erhob sich mitten im wogenden Feld. Von der Straße aus konnte man nur einen Teil des Giebels sehen. Zwei Kilometer ortsauswärts waren sie gefahren und bogen nun in einen schmalen Schotterweg ein. Der Himmel hatte sich dunkelviolett gefärbt. Und dort, wo die schweren Wolken hingen, sah er sogar schon schwarz aus. Seit einer Stunde blies der Wind heftiger und mit ihm rückten auch die Wolken näher.
Brady parkte den Wagen direkt vor dem Haus, auf vertrocknetem Rasen. An der Seitenfront war eine große, überdachte Veranda. Das Grundstück sah genauso aus wie das Land entlang der Straße. Büsche, ein paar niedrige Eukalyptusbäume und rissige Erde.
„He, gib Acht!“, sagte Brady, als Andy hinter ihm die Holztreppe hochstieg.