Etwas mehr als 24 Stunden später. Lucas ist unterwegs, zurück nach Magglingen. Er steigt in Lenzburg in den Regionalzug. Bereits in Aarau muss er umsteigen, der nächste Zug bringt ihn nach Biel. Dort läuft er zur Standseilbahn und fährt mit dieser in das 900 Meter über Meer gelegene Dörfchen am Jurasüdfuss hoch, der Ort, wo das Bundesamt für Sport seinen Sitz hat und viele Spitzensportler trainieren. Zwei Stunden dauert die Reise von Lucas’ Zuhause an seinen Trainingsort. Der Anfall verfolgt ihn auf der Zugfahrt wie ein schlechter Traum, der seine Schatten über den Tag legt. Ein Spuk – möge er sich nicht wiederholen. Morgen wird er wieder in der Halle stehen und trainieren, so tun, als sei alles beim Alten. Der ganze Körper schmerzt noch. Lucas ist froh, dass er auf der Fahrt schweigen kann. Die Eltern haben den Cheftrainer informiert. Was mit ihm passiert ist, teilt er lediglich einem Turnkollegen mit – und bittet diesen, niemandem sonst davon zu erzählen. Er will keine grosse Sache daraus machen. Er will weiterturnen, als wäre nichts gewesen, sich vorbereiten auf die Weltmeisterschaft in Rotterdam. Epilepsie, ein Wort, das ihm noch kaum über die Lippen kommt. Epilepsie. Sie ist ihm unheimlich.
Irgendwie schafft es Lucas, die nächsten Tage abzuspulen wie immer. Fleissig wie zuvor absolviert er sein Tagesprogramm. Der Wecker klingelt vor sieben Uhr. Lucas trinkt nur schnell einen Kaffee. Er ist noch in seiner Ausbildung und arbeitet in einem 30-Prozent-Pensum beim Bundesamt für Sport, BASPO, jeden Morgen von spätestens halb acht bis kurz nach neun. Dann geht’s direkt hoch, 10 Minuten Fussweg zur Jubiläumshalle etwas oberhalb des Dörfchens ins Turntraining bis 12.15 Uhr, Duschen, Essen, nochmals eine Stunde arbeiten und dann zum zweiten Mal in die Halle.
Vielleicht turnt er dieser Tage mechanischer als sonst, weniger gelöst. Das Unheimliche lauert bei jeder Übung im Nacken. Epilepsie. Wird er wieder einen Anfall kriegen? Wann? Wo?
Diese Gedanken verfolgen ihn, während er mit seinen Turnkollegen am Abend zusammensitzt. Die anderen gamen vergnügt, entspannen sich auf diese Weise nach dem Training. Viel mehr lässt sich in Magglingen abends ja auch nicht machen. Hier gibt es kein Kino, keine Beiz, lediglich einen kleinen Tante-Emma-Laden, in den Ausgang muss man nach Biel, mit der Standseilbahn. Lucas sitzt auf dem Bett, schaut den anderen zu, er spielt selber nicht mit, hängt seinen Gedanken nach.
Und dann.
Dann ist die Ungewissheit vorbei.
Wovor er sich die letzten vier Tage gefürchtet hat, trifft ein: ein weiterer Anfall.
Nur vier Tage nach dem Ersten.
Dass es kommt, das spürte ich nicht. Nicht beim ersten Mal und nicht beim zweiten Mal. Alles war wie immer. Und nachher war alles anders.
Als ich es realisierte, war das brutal für mich. Ich wusste, alle haben zugeschaut. Ich fühlte mich irgendwie … schwierig zu beschreiben, ich weiss nicht … ausgeliefert ist wohl das treffendste Wort. Es war ein Gefühl der Nacktheit. Du bist völlig wehrlos, du kannst gar nichts machen, hast keine Kontrolle über deinen Körper und alle Turnerkollegen bekommen es mit. So ein epileptischer Anfall sieht in meinem Falle ja relativ heftig aus. Als ich wieder da war, hatte ich Angst, was sie wohl von mir denken könnten. So im Sinne von: «Was ist das für ein komischer Typ?» Ich schämte mich auch. Damals dachte ich eben: «Mein Gott, wer hat denn so etwas?» Ich wusste damals noch nicht, dass es viele andere Betroffene gibt. Und dass Epilepsie nun mal wirklich nichts ist, wofür man sich schämen muss.
Nicht schon wieder! Lucas realisiert dieses Mal sofort, was passiert ist. Nicht schon wieder!, seine ersten Worte, als er wieder zu sich kommt und merkt, dass niemand mehr am Gamen ist. Und dann – schon wieder – das gleiche Programm wie vier Tage zuvor: besorgte Gesichter der Kollegen, eifrige Sanitäter, die gleichen Fragen, die schmerzenden Muskeln. Und wieder in den Krankenwagen, wieder ins Spital. Jetzt in das Spital in Biel und nun muss Lucas auch über Nacht bleiben. Es ist der zweite Anfall, jetzt gilt es ernst. Im Spital muss er für einen Hirnscan in den Magnetresonanztomographen. Wiederum wird auch ein EEG gemacht. In den nächsten Tagen sollen weitere Tests folgen, eine Therapie verordnet und die Zukunft besprochen werden. Vorerst aber muss er den neuen Tag abwarten. Man bringt ihn in ein Einzelzimmer – mit viel Raum für Ängste und Gedanken. Epilepsie: Das ist nun nicht mehr das lauernde Schreckgespenst. Epilepsie ist nun die Diagnose – und Epilepsie ist lebenslänglich.
Wie weiter?
Ich dachte: «Was, wenn das in der Halle passiert oder gar an einem Gerät? Wie reagiert der Verband? Wollen die mich überhaupt noch? Wenden sich meine Turnkollegen und die Trainer von mir ab und sagen, dieses Risiko wollen wir nicht mittragen?» So vieles ging mir da im Spital durch den Kopf. Ich war innerlich verzweifelt. Ich war ja erst seit kurzer Zeit in Magglingen! Soll es das schon gewesen sein?
Meine Ängste betrafen die Karriere, nicht die Gesundheit. Mein Leben war der Spitzensport. Turnen war mein Ein und Alles. Ich turnte, seit ich laufen konnte. Ich bin in der Turnhalle gross geworden. Ein anderes Leben als das eines Kunstturners konnte ich mir nicht vorstellen. Und nun lag ich im Spital und war auf einmal Kunstturner UND Epileptiker.
Lucas liegt mit schmerzendem Körper im Spitalbett. Die Fragen kreisen dabei unablässig in seinem Kopf. Wo die Zukunft bisher schön angedacht und im Trainingsplan festgehalten war, ist sie jetzt nur noch ein grosses Fragezeichen. In Lucas wütet die Verzweiflung.
Das Telefon klingelt, die Turnerkollegen fragen, wie es ihm geht. Er spricht, gibt Auskunft. Aber über die Ängste spricht er nicht. Die Verzweiflung sitzt tief in ihm drinnen, tritt nicht nach aussen. Zu schlimm ist die Vorstellung für Lucas:
Was, wenn ich nicht mehr turnen darf?
#2DER KINDERGEBURTSTAG
13.05.1998
Lucas staunt. Über die bunten Girlanden, die vielen Geschenke auf dem Gabentisch, über die organisierten Spiele, Reise nach Jericho, Sackhüpfen. Die anderen Kinder scheinen genau zu wissen, wie das alles geht, was wann gemacht wird und welche ungeschriebenen Regeln an einem Kindergeburtstag gelten. Für den achtjährigen Lucas eröffnet sich eine neue Welt. Zum ersten Mal nimmt er an einer solchen Feier teil. Lucas kann den Spagat und den Salto, nicht aber Sackhüpfen und Kindergeburtstag.
Er ist glücklich, er strahlt, verheddert sich beim Sackhüpfen. Endlich einmal ist er mit dabei, an einem Fest, mit seinen Kollegen, ein einziges Mal. Jahre später wird sich kaum noch eines der geladenen Kinder an diesen Tag erinnern. Lucas schon. Es wird sein einziger Kindergeburtstag bleiben. Ein Riesenerlebnis.
Ich war als Kind nur ein einziges Mal an einem Geburtstagsfest. Und auch da nur dank Kompromissen, ich musste zwar trainieren, durfte aber ausnahmsweise einmal früher aufhören damit. Trotzdem kam ich so zu spät an die Feier, sie war schon in vollem Gang, aber immerhin, ich konnte daran teilnehmen.
Es war spannend, dieses Festchen, aber es war auch etwas ganz Neues, dessen soziale Regeln mir fremd waren. Auch die Spiele kannte ich überhaupt nicht. Ich fragte mich zudem: «Warum hat man das, warum macht man das?» Am Schluss kriegte man ein kleines Säckchen mit Sachen, die man mit nach Hause nehmen durfte, Süssigkeiten, Schreibzeug und halt solche Dinge. Ich fand das megacool.
Nein, du hast dann Training.
Das geht nicht, das weisst du doch.
Du hast heute Training, du kannst nicht fehlen.
Nein, heisst es vom Vater, von der Mutter, vom Trainer, wenn Lucas fragt, ob er nicht doch einmal an einem Mittwochnachmittag oder einem Samstag