Es besteht weiterhin Uneinigkeit zwischen Kieferorthopäden bezüglich der Art der Vorverlagerung des Unterkiefers bei einer Klasse-II-Behandlung: (1) Soll der Unterkiefer bis zur Normalokklusion oder bis zu einer überkompensierten Normalokklusion vorverlagert werden (kleines oder großes Bite Jumping)? (2) Soll der Unterkiefer in einem einzelnen Schritt oder in mehreren kleinen Schritten verlagert werden (schrittweises Bite Jumping)? Die Beantwortung dieser beiden Fragen enthält viel Spekulation, aber wenige wissenschaftliche Erkenntnisse.
Kleines oder großes Bite Jumping?
Beim Aktivator empfahlen Andresen und Häupl1 ursprünglich, den Unterkiefer bei einer Klasse-II:1-Behandlung zu einem normalen Overjet (2–3 mm) und einer Klasse-I-Seitenzahnokklusion vorzuverlagern (Abb. 5a). Später befürworteten Andresen, Häupl und Petrik15 eine Vorverlagerung des Unterkiefers bis zur Kopfbissstellung der Inzisivi (Overjet 0 mm). Herren16 empfahl sogar eine Unterkiefervorverlagerung bis zu einer Klasse-III-Relation der Frontzähne (negativer Overjet; Abb. 5b). In der KFO-Abteilung in Gießen wird ein „Kopfbiss-Aktivator“ verwendet, da dieser effizienter als der ursprüngliche Andresen-Aktivator sowie patientenfreundlicher als der Herren-Aktivator erscheint. Einen wissenschaftlichen Vergleich der drei Aktivator-Typen gibt es aber nicht.
Abb. 5a und b Unterkiefervorverlagerung: (a) Beim Andresen-Aktivator bis zu einem normalen Overjet (2–3 mm) und (b) beim Herren-Aktivator bis zu einem negativen Overjet (–1 bis –3 mm).
Bei der im Jahr 1979 „neuentdeckten“ Herbst-Apparatur2 wurde der Unterkiefer in eine Kopfbissstellung der Inzisivi eingestellt (Abb. 6a). In der heutigen Herbst-Behandlung – so wie sie in Gießen praktiziert wird – erfolgt eine Vorverlagerung des Unterkiefers in eine Klasse-III-Frontzahnrelation (negativer Overjet, Abb. 6b)17. Es gibt wissenschaftliche Hinweise, dass dabei der Effekt auf das kondyläre Wachstum und auf die okkludierenden Zähne größer ist18.
Abb. 6a und b Unterkiefervorverlagerung bei der Herbst-Apparatur nach Pancherz (a) bis zur inzisalen Kopfbissstellung (Overjet 0 mm)2 und (b) bis zu einem negativen Overjet (–1 bis –3 mm)17.
Bite Jumping in einem oder in mehreren Schritten?
Bei FKO-Geräten ist man seit mehreren Jahren der Meinung, dass ein Bite Jumping in mehreren Schritten mit jedem Schritt einen neuen Wachstumsstimulus auf den Unterkiefer ausübt. Wissenschaftliche klinische Studien zu diesem Thema gibt es nur bei der Headgear-Herbst-Apparatur19, aber nicht beim Aktivator. Die Ergebnisse der Headgear-Herbst-Studie zeigen einen besseren Effekt beim Mehrschritt-Verfahren.
Experimentelle Studien an Ratten, bei denen der Unterkiefer mittels festsitzenden Protrusionssplints schrittweise nach anterior verlagert wurde, bestätigen den Vorteil des Mehrschritt-Jumpings gegenüber des Einschritt-Jumpings20–22.
Der Autor dieses Beitrags verwendet bei der Herbst-Behandlung seit 1984 das Mehrschritt-Verfahren des Bite Jumpings (Abb. 7). Klinische Fälle zu diesem Thema sind neuerdings in der KIEFERORTHOPÄDIE vorgestellt worden17.
Abb. 7a bis c Beispiel eines Bite Jumpings in mehreren Schritten während einer Herbst-Behandlung. Der Unterkiefer wird durch wiederholte Nachaktivierung des Teleskop-Mechanismus in einer dauerhaften inzisalen Kopfbissstellung gehalten. a) Schritt 1: Beim Start der Behandlung wird der Unterkiefer in die inzisale Kopfbissstellung eingestellt. b) Schritt 2: Nach 2 Monaten wird der Unterkiefer mithilfe von Distanzröhrchen, die auf die Gleitstangen des Teleskop-Mechanismus aufgeschoben werden, 1 mm weiter vorverlagert. c) Schritte 3 und 4: Nach 3 bzw. nach 5 Monaten wird der Unterkiefer durch zusätzliche 1-mm-Distanzröhrchen weitere 2-mal nach vorne verlagert.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein größeres Bite Jumping eine bessere Wirkung als ein kleineres Bite Jumping zu haben scheint, und dass ein Mehrschritt-Verfahren effizienter als ein Einschritt- Verfahren ist. Dies ist bei der Herbst-Apparatur, aber nicht beim Aktivator nachgewiesen worden.
Stimulierung des Unterkieferwachstums
Eine ewige Streitfrage in der Kieferorthopädie ist: Kann das Unterkieferwachstum durch eine FKO-Behandlung stimuliert werden? Beim Aktivator gibt es eine „Ja“-Seite23–27 und eine „Nein“-Seite28–33. Bei der Herbst-Apparatur liegt eine einheitliche „Ja“-Antwort auf die Frage vor2,34–39.
Eine Ursache der unterschiedlichen Antworten bei der Aktivator- und Herbst-Behandlung könnte u. a. an verschiedenen Analyseverfahren bei der Auswertung von Fernröntgenseitenbildern des Kopfes (FRS) liegen. Bei den Aktivator-Studien verwendet man für die Messungen von Wachstumsveränderungen des Unterkiefers vorwiegend die Veränderung des meist anterior gelegenen Kinnpunkts, nach Superponierung der FRS über die Schädelbasis (Abb. 8a). Bei den Herbst-Studien werden die Veränderungen des meist posterior gelegenen Kiefergelenkpunkts, nach Superponierung der FRS über die stabilen Strukturen des Unterkiefers gemessen (Abb. 8b).
Abb. 8a und b Superponierung von FRS zur Beurteilung von Wachstumsveränderungen des Unterkiefers bei einer FKO-Behandlung: a) Superponierung der FRS über die stabilen Knochenstrukturen der Schädelbasis zur Beurteilung der Wachstumsveränderung des meist anterior gelegenen Kinnpunktes bei einer Aktivator-Behandlung. b) Superponierung der FRS über die stabilen Knochenstrukturen des Unterkiefers zur Beurteilung