1.3Der kosmetisch-ästhetische Wert der Zähne in Vergangenheit und Gegenwart
Den individuellen Wert und die kulturelle Bedeutung der Zähne und des Gebisses in Vergangenheit und Gegenwart spiegeln archäologische Funde, schriftliche antike Quellen sowie ethnologische Feldstudien wider. So haben z. B. Zähne bei Naturvölkern weniger einen funktionellen als einen idealisierenden Wert. Für die in vielen Gebieten der Welt vorkommenden artifiziellen Veränderungen an Zähnen, wie Färbungen, Schmuckeinlagen und Zahnfeilungen, werden religiös-kultische, soziologisch-wirtschaftliche, ästhetisch-künstlerische und medizinisch-hygienische Gründe geltend gemacht (Alt et al. 1990, Alt und Pichler 1998, Garve 2014, Burnett und Irish 2017). Diese Bräuche stehen scheinbar im Widerspruch zu der von Europäern schlechthin als Schönheitsideal empfundenen Natürlichkeit der Zähne in Form, Farbe und Stellung, die bereits Griechen und Römer vertraten. Dass kosmetisch-ästhetische Vorstellungen aber stark von kulturspezifischem Brauchtum abhängen, zeigt die in islamischen und osteuropäischen Ländern noch häufig zu beobachtende Sitte, Zähne im sichtbaren Bereich mit Gold oder anderen Metallen zu überkronen, um damit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht zu demonstrieren, ähnlich wie in Japan die Schwarzfärbung der Zähne bis ins 19. Jahrhundert die Verheiratung einer Person angezeigt hat (zum Themenkomplex „Ästhetik“ siehe Kap. 17). Auch in Laos und Vietnam sind solche Schwarzfärbungen der Zähne bekannt. Hier wird vermutet, dass die Prozedur nicht nur ästhetischen Wert, sondern auch medizinischen Nutzen bei der Kariesprävention haben könnte (Tayanin et al. 2006).
In der modernen Zahnmedizin bildet die Wiederherstellung der gestörten Kaufunktion den Schwerpunkt jeder prothetischen Behandlung. Daneben sind funktionelle, ästhetische und phonetische Aufgaben zu erfüllen. Wie jeder zahnärztliche Behandler bestätigen wird, sind für die Patienten primär ästhetische Beweggründe für den Wunsch nach Anfertigung von Zahnersatz maßgebend, weil den Zähnen für das Leben in der Gesellschaft und Öffentlichkeit hohe Bedeutung zukommt. Zahnlosigkeit im Frontzahngebiet wird in der Regel nur kurze Zeit von den Betroffenen akzeptiert, wobei viele Patienten bis zur Fertigstellung einer Interimsversorgung sogar krank geschrieben werden möchten. Während im lückigen Frontzahngebiss Patienten meist von sich aus mit dem Wunsch nach einer prothetischen Rehabilitation kommen, stört Zahnlosigkeit im Seitenzahngebiet selten und es bedarf vielfach besonderer Hinweise des Zahnarztes auf entstehende Funktionsstörungen, bevor hier in eine prothetische Versorgung eingewilligt wird.
Erfahrungsgemäß sind es also weniger die funktionellen Auswirkungen von Zahnverlust und Zahnlosigkeit – einmal abgesehen von den Sprachschwierigkeiten – als vielmehr die negativen Einschränkungen des äußeren Erscheinungsbildes, das Empfinden eines körperlichen Defektes, die Patienten in die zahnärztliche Praxis und in eine prothetische Behandlung führen. Fehlfunktionen werden oft über längere Zeit durch reaktives Verhalten kompensiert, Schmerzen bisweilen durch Selbstmedikation therapiert und die Nahrungsaufnahme den gegebenen Möglichkeiten angepasst. Ein lückenhaftes, schadhaftes und ungepflegtes Gebiss dagegen weckt bei vielen Menschen ein tief verankertes Schamgefühl und löst psychosoziale Störungen aus, weil mit dem schlechten Gebiss ein Verlust an Jugend, Schönheit und Attraktivität assoziiert und der Gebisszustand vielfach dem individuellen Fehlverhalten des Trägers angelastet wird (Böhme et al. 2015).
Die Erkenntnis, dass seitens der Patienten kosmetische Beweggründe Priorität vor funktionellen Erwägungen bei Zahnverlust haben, ist nicht auf die Verhältnisse in modernen Gesellschaften beschränkt. Bereits in der zeitgenössischen antiken Literatur werden die negativen Auswirkungen von Zahnverlust auf das Befinden der Betroffenen geschildert, die, wenn sie es sich leisten konnten, technisch zwar unzulänglichen, kosmetisch aber wohl befriedigenden Zahnersatz herstellen ließen. Archäologisch überlieferte, kaufunktionell völlig insuffiziente Konstruktionen von Zahnersatz sind der konkrete Beweis dafür, dass die Wiederherstellung des Kauorgans allenfalls sekundär von Bedeutung war. Bis weit in das 19. Jahrhundert bestimmte primär der Wunsch nach ästhetischer Rehabilitation die Herstellung von Zahnersatz (Alt 1993).
An Behandlungsgrundsätzen sind, außer der Absicht, die entstandene Lücke zu schließen und eingefallen wirkende Gesichtspartien auszupolstern, meist keine weiteren Kriterien erkennbar. Funktionelle Erwägungen scheinen kosmetischen Zwecken immer nachgeordnet, wenngleich einige Fundstücke belegen, dass „Zahnkünstler“ mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und mit Geschick und Können gelegentlich versucht haben, funktionelle Gesichtspunkte (z. B. Okklusion) bei der Herstellung von Zahnersatz zu berücksichtigen. Dies gelang meist nur unvollkommen und war immer nachrangig. Ein klassisches Beispiel für die Unzulänglichkeit seines Zahnersatzes stellt George Washington dar, der bereits im Alter von 40 Jahren eine Teilprothese aus Nilpferdknochen erhalten hatte, in die menschliche Zähne unbekannter Herkunft eingesetzt waren (Weinberger 1948). In vielen Anekdoten wird erzählt, dass G. Washington lebenslang an den Veränderungen gelitten hat, die mit dem Zahnverlust und dem Tragen des insuffizienten Zahnersatzes zusammenhingen (Lässig und Müller 1983). Überhaupt hatten die Behandlungsversuche oftmals nur kurzfristig Erfolg, da eine den Restzahnbestand schonende Verankerung des Zahnersatzes noch nicht möglich war. Nach Eingliederung des Ersatzes waren die Pfeilerzähne durch Fehlbelastungen bald geschädigt und gingen vielfach vorzeitig verloren (vgl. Alt 1993).
Als Werkstoff für die Herstellung von Stiftzähnen, Brücken und Prothesen mussten, sofern diese nicht in einem Stück, aus Knochen, Elfenbein, Walroß- und Flusspferdhauern (Stoßzähne) geschnitzt waren, sonstige Tierzähne oder auch menschliche Zähne von Toten herhalten (Paulson 1908, Lorenzen 2006). Die aus organischen Materialien bestehenden Werkstoffe waren für prothetische Konstruktionen wenig geeignet: Sie fielen wie die eigenen Zähne der Karies zum Opfer, verfärbten sich rasch, verbreiteten einen intensiven Geruch und mussten häufig erneuert werden. Nahezu unumgänglich war es, den vermeintlichen „Zahnersatz“ vor dem Essen herauszunehmen, da damit nicht gekaut werden konnte. Weil das Tragen von Zahnersatz wahrscheinlich lange Zeit nichts Beschämendes an sich hatte, sondern die Zugehörigkeit zur Oberschicht bezeugte, kam der späteren Verwendung von Metall (meist Gold) im sichtbaren Bereich eher ein dekorativer Effekt zu.
Von den frühesten prothetischen Arbeiten durch Etrusker und Phöniker um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. bis weit ins 19. Jahrhundert bedeutete das Tragen von Zahnersatz ein Privileg, das sich