Ostexpress in den Westen. Heinz Zschech. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinz Zschech
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991300380
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Sprachführerin – und führt durch die Stadt.

      „Entschuldigen Sie bitte, die Filmhochschule …?“ – Es ist am anderen Ende der Stadt, Nord weit und weg.

      „Wie viele sind Sie aus Ihrem Staate?“, fragt der Direktor, und Monika springt in die Lücke, sagt:

      „Einer. – Oh, der Martin, Herr Sarodnick kann alles verstehen, nur sprechen ist für ihn noch zu schwer, wegen der Scham …“ – und sie tritt ihm auf die Füße, so dass Martin zustimmend nickt. „Ein Vorbereitungskurs ist nicht nötig.“ – Der Direktor ist verführt von dem Charme: „Dokumentar- oder Spielfilmregie?“

      „Spielfilm natürlich.“

      „Das wird sicherlich schwer“, spricht der Mann und meint es so gut wie versprochen. Monika ist ins Institut aufgenommen, und der Direktor gibt ihr die Hand.

      „Herr Sarodnick, hier!“

      „Natürlich, Frau, Fräulein … bloß ‚Spielfilm‘, ich weiß nicht …“

      „Es steht im Vertrag.“ – Wer hat Verträge gelesen?

      „Gut. Kommen Sie in drei Wochen!“

      „So lange wartet der Herr?“

      „Das ist seine eigene Sache.“

      Das Internat ist ein Steinklotz an der Jausa, ein nebenseitiger Arm von der Moskwa, am Bahnort nach Norden Sagorsk. Die Tataren hatte man nah von hier aufgehalten im Mittelalter am Fluss, der jetzt fast gänzlich weggetrocknet und bald nur noch die Erinnerung lässt. Hinter den Schienen ist ein Wald bis zum Sakolniki Park ausgeworfen, mit Birken, wie es in Büchern oft steht. Der Lärm der Züge weht in die Etagen des Heimes und zieht den Geruch der Bäume nach sich hinein. Die Fenster schmücken den Rest. Der Bau duldet den Zweck, die Unterbringung von Menschen. Er ist ein Zelt für den Winter, übereinander gestockt in fünf Reihen. Die erste ist für die Aspiranten gezogen, die zweite für die Ökonomen und Kameraleute, die dritte für Maler und Szenaristen, die vierte für Schauspieler und Regisseure, die fünfte für Mädchen. Vier Stöcke – vier Leute im Zimmer, drei Leute – wenn man drei Jahre schon wohnt. Jede Zeile fließt in die Küche, in die Toilette, in die Waschräume aus. Im Keller wärmt eine Dusche, darüber liegt eine Kantine, darüber das Leben, darunter aber die Erde und das Gewässer der Jausa von eins.

      Ein Junge, zwei Koffer, zwei Taschen, zwei Zettel mit Stempeln würgen sich in das Zimmer im dritten Stock. „Tag Martin!“

      „Ach ja, Fritz!“, sagt der eine von den Zimmerbewohnern.

      „Martin. Sarodnick, Martin.“ – Die anderen lachen. Martin ist es ganz schnuppe, wo er seine Nächte verbringt.

      „Willst du teilen mit uns?“ – Wladimir, Samwel, Wasili. Russe, Armenier, Bulgare. Im Schrank hängt ein Mantel, eine Jacke, zwei Hemden – Sarodnick richtet sich ein.

      „Die Koffer wohin?“ – Ein Tisch, zwei Tag- und Nachtschränkchen, vier eiserne Betten, ein Schrank und ein mickriger Lautsprecher daneben geschraubt. „Ich brauche etwas Privates. Mit Schloss! Ich werde mit dem Internatsleiter reden. – Passt auf, dass niemand inzwischen was klaut!“ – Sarodnick geht.

      „Deine Mutter hab ich gefickt!“, schleudert der Armenier gegen die Tür. Er kommt aus Tbilissi, wuchs auf unter Georgiern, lebte mit seiner Großmutter allein, denn die Eltern waren im VaterländischenKriege gefallen. Jura hat er studiert, als Advokat kurz praktiziert und beginnt „Regie“ heuer zu lernen. „Diesen Fritz, verdammten Scheißkerl, erschlage ich noch!“, schreit er und geht an die Luft, den blauen Schlips knotend, die Kunstlederschuhe sorgfältig hoch über die Knöchel geschnürt und die grau schlendernde Hose knapp unter das verwaschene Sakko geknöpft. Zeitlos sind sie gewaschen – die Jacke, das Hemd und der Binder –, zeitlebens sind die Schuhe gezeitigt, und bloß die Turnhosen wechseln von Jahr zu Jahr, wenn sie mal völlig verschlissen.

      Am nächsten Tag ist Samwel mit den anderen schon aus dem Häuschen: Der erste Kurs fährt zum Ernteeinsatz – Kartoffel lesen und packen. Sarodnick dagegen hat inzwischen Zeit sich einzuleben, zu gewöhnen, einzurichten, Vokabeln zu lernen. „Wie gut, dass Monika ist!“ – Bis zum Abend büffelt, ächzt er sich durch und lässt Monika da, wo sie ist – es stehen ausreichend Betten.

      „Frierst du nicht?“, fragt er, im Halse das Herz hörend, „unter der anderen Decke allein?“ – Und er streichelt sich ein, fängt das Gesicht und den Mund. Sie liegt wie die Ruhe daneben: „Geschieht es, gescheh!“, erwidert den Kuss, entkleidet von ihm sich die Haut. Martin tastet die Hand in sein Bein und spürt die Gleichgültigkeit bei: ein Mädchen, ein Junge – nah, lustig, lustzagen, lästig. Er hat nichts in den Händen, und Monika wartet aufs Ziel. Er hört seine Brust schlagen, lauter als sonst, und der Schlag wird zum Selbstschlag, schlägt die Lust nieder mit einem, und die Regung regt sich als Schmerz in dem Magen wie ein „Kann nicht“, ein „Ich kann nicht“, wie ein „Breit in dem Mädchen versagt.“ Brutal aber schmälert der Junge es nieder, und gewinnt mählich seine Macht über den Bauch: „Ich dachte, du hättest noch nie … mit einem Mann … – Mit jeder kann ich nun nicht“, beanstandet er und tröstet sich somit erleichtert. Monika weint:

      „Einen. Einzigen. Einmal geschlafen.“

      „Und doch!“

      „Es war eigentlich nichts.“

      „Und doch.“ – Sarodnick ist enttäuscht, sitzt auf der Kante vom Bett und wischt ihr die Tränen, wischt große Worte ins Dunkel: „Liebe ist rein. Not opfert den Geist. Verfrüht ist Finden vor Suchen, die Prüfung ist Leid zur Veredlung, die Zeit ekelt in Schnelle – schnelllebig, spannungsverladen –, es ist nur im Bett und ohne Sagen danach. Man schläft Langeweile verborgen … ich verzeihe es dir. Aber wisse es wohl! – Und dann ist noch Petra. Nicht einfach das Stück. Ich kann nicht wechseln wie Hemden; Treue vertrocknet nicht an der Leine so schnell. Alles ist mit dem Wind.“ – Seine Sprüche sind flattrig, gelesen, ohne Bezug in dem Bett, und der Körper des Mädchens entflieht verschämt in die Kleidung zurück. –

      Nicht das erste Mal trifft Martin da auf den Kopf. Er kennt die Szenen, die Schlappen, aus denen er das Beste stets macht. Mit sechszehn fror es ihn schon, kroch er unter die Decke von einer Frau, und die Lust ging ihm fix in die Binsen. Nur der Schweiß stand gepanscht auf der Stirn, und er wollte rasch sich verziehen.

      „Hast du ein Gummi bei dir?“, fragte plötzlich die Frau, und Sarodnick fiel es wie ein Stein in das Bett: Er fand Gott sei Dank wieder das Wort:

      „Nein.“

      „Dann lassen wir’s lieber.“

      „Ja“ und „hurra“ – ein Jubel ohne Ekstase, aber Jubel trotzdem, ein Motiv für die ungeschehene Tat, für die Nichtfähigkeit.

      Später traf er Ilona. Er kannte sie schon aus der Schule, kannte ihren Busen für zwei offene Hände, die Küsse vor ihrer Haustür, die ihn verschlangen, und seine Finger spielten gefurcht mit ihren Beinen daneben. In Leipzig war er ihr wieder begegnet, und ihr Körper stand vor ihm in den Tag, und er nahm sie ins Kino, spürte die Gier neben sich, die sich mit den Bildern der Leinwand synchronisierte, spürte das Bild nicht zu Ende und lockte daher zu sich.

      Sie saßen in der Kneipe zur Ecke bei Brause, und Martin beobachtete das Licht im zweiten Stock gegenüber vom Haus. Seine Wirtin brannte noch wach, und erregt stierte er an Ilona vorbei zu den Fenstern: „Verflucht, die Alte findet nicht Schlaf!“ – Nach der fünften Limonade flackerte es endlich und löschte, und die beiden schlichen ins verbotene Zimmer hinauf. Martin nahm einen Likör aus dem Schrank und reichte den Trunk genau unter der Lampe dem Mädchen. Der Plan spannte sich auf, und Sarodnick drehte schnell an der Birne. Im Dunkel suchte er Schutz und versteckte Ilona ins Bett.

      „Und weiter? – Diese Brause! – Ach, küssen, streicheln die Lust.“ – Er fühlte die Patsche in ihr, setzte sich zu, kramte im Handeln – schnell musste es gehen! –, tat so, als täte er ob, und die Kälte lief ihm über den Rücken. Ilona ließ sich gewähren, eine Erfahrung bediente sich ihr: „Dieser Kerl hat mit vielen geschlafen.“ Doch der Kerl stand nicht da