Staat als prozesshafte Integration (Rudolf Smend). Anders als Schmitt ging Smend nicht davon aus, dass dem Staat eine dauerhafte gefestigte politische Einheit voranging.[333] Die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft führe vielmehr dazu, dass auch der Staat nicht mehr als etwas Dauerhaftes, sondern als etwas stets Wandelbares, als eine dynamische Einheit angesehen werden müsse, in der der erforderliche Zusammenhalt immer wieder neu hergestellt und realisiert werden muss: „Aus diesem Grund ist der Staat in der Integrationslehre keine an sich bestehende Person, die mit technischen und mit Machtmitteln bestimmte Aufgaben zu erfüllen sucht und dadurch in einen Gegensatz zum Einzelmenschen tritt. Das Problem der Fremdheit zwischen Staat und einzelnem kann gelöst werden, wenn der Staat nicht als reine Zweckschöpfung, sondern als eine Existenzweise und geistige Lebensgemeinschaft von Menschen erkannt wird. Die Integrationslehre unternimmt es, die Spannung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft zu überwinden, indem der Staat als wesensnotwendige Lebensform des menschlichen Geistes betrachtet wird.“[334] Der Staat war für Smend eine konstante (geistige) Integrationsgemeinschaft. Er basierte auf dem „Sinnprinzip der Integration“ und überlebte allein dank eines gedachten Plebiszits, das sich jeden Tag aufs Neue wiederholte und mit dem die Bevölkerung ihre Zugehörigkeit zum Staat zum Ausdruck brachte: „[Der Staat] ist überhaupt nur vorhanden in |58|diesen einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhangs sind, und in den noch wichtigeren Erneuerungen und Fortbildungen, die lediglich diesen Zusammenhang selbst zum Gegenstande haben […]. Es ist dieser Kernvorgang staatlichen Lebens […], für den ich […] die Bezeichnung Integration vorgeschlagen habe.“[335] Dass der moderne Staat auf die Integration seiner BürgerInnen angewiesen ist, wird heute nicht mehr bestritten. Smends Integrationslehre wird daher auch heute noch vielfach – nicht zuletzt im europäischen Integrationsprozess – rezipiert, was auch aufgrund ihrer inhaltlichen Offenheit gut möglich ist.[336] Wie Integration gelingen kann und wie unter anderem die (staatlich geförderte) Kultur dazu beitragen kann (etwa die Kunst) bleibt eine zentrale Frage im demokratischen Verfassungsstaat.
Für eine moderne Allgemeine Staatslehre können diese historisch-theoretischen Staatsbegriffe nicht den Endpunkt der Debatte darstellen. Das gilt schon deshalb, weil es sich um ausschließlich deutsche Konzepte handelt, die zudem allesamt aus vordemokratischen Zeiten stammen (zumindest aus deutscher Sicht), den Wandel zum Wohlfahrtsstaat damit ebenso wenig erfassen, wie die aktuellen Herausforderungen. Sie haben insofern vor allem historisch-theoretischen Wert, teilweise sind sie – wie der Schmitt’sche Begriff – für die Beschreibung des demokratischen Verfassungsstaates als pluralistischem Sozialstaat von vornherein unpassend und allenfalls als Kontrastfolie nutzbar. Das heißt selbstverständlich nicht, dass sie für die Entwicklung neuer Staatsbegriffe keine Grundlage darstellen könnten oder sollten. Sie müssen auch keineswegs umfassend verworfen werden, jedoch auf ihre fortbestehende Tauglichkeit für die Beschreibung und Bestimmung moderner Staatlichkeit immer wieder untersucht und gegebenenfalls angepasst werden. Dass aber etwa die Integrationslehre Rudolf Smends, die Verrechtlichungsthese Hans Kelsens und auch die Jellinek’sche Zwei-Seiten-Lehre weiterhin wissenschaftlich wertvolle, ja grundlegende Beiträge darstellen – gerade auch im Hinblick auf die europäische Integration[337] –, an denen keine Allgemeine Staatslehre vorbeikommt, wird niemand bestreiten. Gleichwohl überrascht der Befund, dass es in den letzten Jahrzehnten nur vergleichsweise wenige Versuche gegeben hat, aktuellere Staatsbegriffe zu entwickeln, die die Wandlungen von Staatlichkeit in Zeiten von Globalisierung aber auch Digitalisierung angemessen zu erfassen vermögen. Seinen Grund findet das |59|gewiss nicht zuletzt in der zunehmenden Ablösung des Staatsbegriffs als wissenschaftliche Beschreibungskategorie, die sich bereits in der Weimarer Zeit abzeichnete, als die klassische Allgemeine Staatslehre ihre Hochzeit bereits überschritten hatte. An die Stelle des Staates trat vielmehr die Verfassung, an die Stelle der Allgemeinen Staatslehre die Verfassungslehre oder schlicht das Verfassungsrecht. Als Vertreter, die sich für eine solche Aufwertung des Verfassungsbegriffs stark machten, wird man in der früheren Bundesrepublik vor allem Peter Häberle und Konrad Hesse nennen können. Die mit dieser Aufwertung bisweilen suggerierte „Reinigung“ von sozialwissenschaftlichen, politischen oder (subjektiven) staatstheoretischen Einflüssen war freilich nur eine scheinbare[338] (was allerdings nur selten zu stören schien). Der „reaktionäre“ Versuch den Staatsbegriff als Reaktion auf diese Entwicklungen wiederzubeleben und dem klassischen souveränen Einheitsstaat neben oder vor der Verfassung einen eigenständigen Wert oder gar die Funktion einer Verfassungsvoraussetzung zuzuweisen wird man mittlerweile zwar als im Kern gescheitert ansehen müssen – auch weil dieser Versuch auf interdisziplinäre Verständigung praktisch vollständig verzichtete. Indes lieferte auch die „Neue Staatswissenschaft“ mit ihrem ausdrücklichen interdisziplinären und pluralistischen Ansatz keine mit wenigen Worten zu beschreibende eingängige neue Definition von Staatlichkeit für das 21. Jahrhundert. Gunnar Folke Schupperts Vorstellung der steten Veränderung des modernen Staates, des „Staat[es] als Prozess“[339] weist zwar treffend auf die Dauerhaftigkeit des Wandels moderner Staatlichkeit hin und betont damit die Notwendigkeit einer dynamischen und nicht-statischen Betrachtung des modernen Staates gerade auch durch die Allgemeine Staatslehre. Für das, was der moderne Staat in seiner gegenwärtigen Form „ist“ – auch wenn er sich kontinuierlich wandelt, hat er zu jedem Zeitpunkt auch einen aktuellen Status, der beschrieben und definiert werden kann – liefert diese Perspektive mit ihrer Betonung der „Steuerung“ und der „Governance“ im Ergebnis keine wirklich befriedigende, zumindest aber eine allzu weitgefasste Antwort. Für die Allgemeine Staatslehre ist das kein zufriedenstellender Befund. Zwar tun sich auch andere Disziplinen mit der Definition ihres zentralen Forschungsgegenstands schwer, was nicht per se als problematisch angesehen werden muss. Zu nennen wäre die Politikwissenschaft und ihr Begriff des Politischen. Hier gilt insofern das, was Elif Özmen unlängst auch für die politische Philosophie festgehalten hat: „Positiv gewendet erscheinen dieser Pluralismus und die damit verbundene methodische und inhaltliche Offenheit als der |60|angemessene Ausdruck der Komplexität und Wichtigkeit des Gegenstandes.“[340] Gleichwohl dürfte es für die jeweilige Disziplin zentral sein, dass diese Grundlagendebatte dauerhaft geführt und mit neuen Ideen und Lösungen bereichert und an die Zeitumstände angepasst wird. Das gilt auch für die Allgemeine Staatslehre, die aufgerufen ist, neue und realitätsnahe Konzepte von Staatlichkeit zu entwickeln und zur Diskussion zu stellen. Diese sollten neben normativen auch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen (Individualisierung, Digitalisierung, soziale Medien etc.) aufnehmen und verarbeiten – eine Forderung, die interessanterweise bereits Ernst Forsthoff Anfang der 70er Jahre formuliert hat (wenn auch vor allem im nostalgischen Blick zurück auf den klassisch-modernen, und von der Gesellschaft getrennten souveränen Staat).[341] Anders gewendet: Wer nicht mehr über den Staat spricht, muss sich nicht wundern, wenn die Allgemeine Staatslehre aufhört.[342]
Ein Beispiel für ein solches Konzept stellt der von Thomas Vesting in Anlehnung an, aber auch in Abgrenzung von Karl-Heinz Ladeur[343] präsentierte und zudem die Gedanken des Schuppert’schen Gewährleistungsstaats[344] aufnehmende „Netzwerkstaat“ dar.[345] Mit diesem Modell versucht Vesting die Folgen der Algorithmisierung und die darin begründete Fragmentierung der Gesellschaft in spontane Ordnungen[346] und Schwarmbildungen („Schwarmdemokratie“[347]) zu erfassen. Ergänzend wird es auch darum gehen müssen, die nicht nur, aber auch mit der Digitalisierung zusammenhängenden Verluste kommunaler und regionaler Zusammengehörigkeitsnarrative für den Begriff der und den Fortbestand von Staatlichkeit analytisch zu durchdringen. Diese Staatsdefinition oder Staatsbeschreibung, deren Anfänge nach Vesting bereits in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreichen, könnte den Ausgangs- und Reibepunkt einer modernen Allgemeinen Staatslehre bilden, die |61|sich ihrer historisch-theoretischen Fundierung ebenso wie ihrer aktuellen Beschreibungs-, Einordnungs- und normativen Konstruktionsaufgabe bewusst ist. Das bedeutet nicht, diesen Beschreibungsversuch übernehmen oder ihn gar zum neuen Referenzmodell erklären zu müssen. Dass er im Ausgangspunkt aktuelle Phänomene der (zunehmend digitalisierten) Postmoderne treffend beschreibt und im Staatsbegriff spiegelt, wird man jedoch nicht bestreiten können. Ohnehin tritt der Netzwerkstaat in Vestings Konzeption weder an die Stelle des Verfassungs- noch