Da wir uns aber viel weniger bewegen als unsere Vorväter, trotzdem aber häufig zu süßen, salzigen oder fettigen Speisen greifen, werden uns die einst nützlichen Mechanismen der Nahrungsauswahl zum Verhängnis.
Denn statt die Energie aus den Nahrungsmitteln sofort zu verbrauchen, speichert unser Körper sie als Fett in Milliarden von Zellen. Werden diese Zellen nun über eine längere Zeit mit üppiger Nahrung versorgt, wachsen sie bis auf ein Vielfaches ihres normalen Durchmessers an. Das führt langfristig oft zu krankhaftem Übergewicht: Weltweit gelten heute 1,6 Milliarden Menschen als übergewichtig; 400 Millionen sind so schwer, dass Ärzte sie gar als krank bezeichnen.
Zudem leiden viele Erwachsene an Bluthochdruck, der unter anderem vermutlich von zu großem Salzkonsum ausgelöst wird und heute zu den größten medizinischen Problemen zählt: Er erhöht das Risiko für Gefäßverschleiß und Schlaganfälle, Herzinfarkte und Nierenversagen.
Dabei sind wir von Natur aus eigentlich darauf programmiert, nicht zu viel zu essen. So sorgen etliche Signalketten in unserem Organismus dafür, dass wir uns irgendwann satt fühlen: Der Körper registriert, wie viel unverdaute Nahrung sich im Verdauungstrakt befindet, welche Nährstoffe im Blut zirkulieren oder in welchem Rhythmus der Magen gefüllt und geleert wird.
Irgendwann signalisieren dann beispielsweise Hormone aus der Bauchspeicheldrüse sowie dem Darm oder den Fettzellen dem „Sättigungszentrum“ im Hirn, dass der Energiebedarf des Körpers gedeckt ist. Daraufhin sendet das Gehirn Botenstoffe aus, die das Hungergefühl verebben lassen.
Allerdings läuft dieser Prozess nur langsam ab – es dauert ungefähr 20 Minuten, bis wir ein Sättigungsgefühl entwickeln. Die Folge: Essen wir in dieser Zeit zu schnell, essen wir zu viel.
Darüber hinaus vertraut der Körper nicht allein auf innere Signale, um den Energiehaushalt zu kontrollieren. Noch immer beeinflussen auch Reize aus unserer Umwelt, wann wir des Essens überdrüssig werden – und wann nicht.
Dies konnte etwa der US-Ernährungswissenschaftler Brian Wansink in einem verblüffenden Experiment nachweisen. Der Forscher lud 54 Studenten zu einer kostenlosen Tomatensuppe in ein Restaurant ein. Jeweils zu viert setzten sich die Gäste an einen Tisch, auf dem die dampfende Suppe bereits in vier Schalen serviert war. Zwei der Gefäße hatten die Forscher aber präpariert: Durch einen Schlauch wurden sie permanent mit frischer Suppe aus einem versteckten Bottich neben dem Tisch gefüllt.
Nach 20 Minuten unterbrachen die Forscher die Mahlzeit und prüften, wie viel jeder der Teilnehmer gegessen hatte. Es zeigte sich: Im Durchschnitt verzehrten die Studenten mit der präparierten Schale 73 Prozent mehr Suppe.
Weitere Experimente des Forschers bestätigen: Man kann Menschen sehr leicht dazu bringen, mehr zu sich zu nehmen, als ihr Körper benötigt.
So kann etwa die Größe des Tellers oder eines Behältnisses entscheidend sein. In einem Versuch aßen Kinobesucher 53 Prozent mehr Popcorn als eine Vergleichsgruppe, deren Portionen nur halb so groß waren – egal ob sie Appetit hatten oder nicht.
Doch warum nehmen wir mehr Nahrung auf, als für die Erhaltung unseres Körpers notwendig ist? Die Antwort: Vermutlich allein deshalb, weil wir heutzutage schlicht die Gelegenheit dazu haben.
Jüngste Forschungsergebnisse belegen, dass schon das Betrachten von Speisen eine Hormonfreisetzung bewirkt, die Hunger auslöst. Optische Reize, etwa durch Werbung, können also tatsächlich Essanfälle provozieren.
Vermutlich verschmähten auch unsere Vorfahren nur selten einen nahrhaften Bissen. Denn es war ja ungewiss, wann es den nächsten gab. Die überschüssige Energie speicherte Homo sapiens als Fettgewebe ab. Also gleichsam in einem Depot für kargere Zeiten.
In der Moderne aber kehren sich die alten, evolutionären Vorteile nun gegen uns. Und so sind wir als Nachfahren der ersten Menschen, die sich einst optimal an ihre Umwelt angepasst haben, wohl die einzige Art auf Erden, die sich mit ihrem Ernährungsverhalten heute vielfach selber schadet.
Psychologie
Die Kraft des Unbewussten
Wie Gefühle, Assoziationen und Gewohnheiten unser Essverhalten prägen
Von Bertram Weiß
Wir treffen jeden Tag rund 20 000 Entscheidungen – und etwa 200 bestimmen darüber, wann wir wo, wie, was und wie viel essen. Doch nur selten geschieht dies mit Bedacht; selten reflektieren wir rational unsere Wahl. Gerade einmal 15 dieser Entschlüsse, so schätzt der US-Ernährungswissenschaftler Brian Wansink, sind uns normalerweise so bewusst, dass wir uns später daran erinnern; die übrigen Entscheidungen treffen wir eher unwillkürlich.
Geprägt wird unser Essverhalten dabei zum einen von unserem Erbgut, aber auch von unserem sozialen Umfeld und erlernten Regeln sowie von Gefühlen, Automatismen oder Assoziationen. Das Gehirn entscheidet also häufig im Verborgenen, im Unbewussten, ohne dass uns die wahren Beweggründe klar wären.
So planen wir rund zwei Drittel unserer Einkaufsentscheidungen nicht lange, sondern fällen sie erst in einem kurzen Moment im Geschäft. Innerhalb von Sekundenbruchteilen kann dann eine unbewusste Erinnerung an Emotionen wie Ekel oder Freude mitentscheiden, ob wir uns einem Lebensmittel zuwenden oder nicht.
Diese Erinnerungen werden blitzschnell aktiviert. Denn wie auf geistigen Karteikarten, so der US-Neurologe Antonio Damasio, sind in den Nervenzellen im Gehirn unbewusste Emotionen gespeichert, die eine bestimmte Erfahrung mit einem Produkt einmal ausgelöst hat.
Wohl jeder von uns kennt mindestens ein Nahrungsmittel, das er strikt ablehnt, obwohl andere es gern essen. Manche erfüllt etwa der Verzehr einer Wurst mit Ekel, andere verabscheuen Ananas, Rosinen oder Spinat.
Eine solche Aversion kann aus Zufall entstehen – etwa, wenn wir eine bestimmte Speise zu uns nehmen, während uns eine Krankheit wie eine schwere Grippe befällt. Das Gehirn verbindet dabei Ereignisse, die eigentlich nicht in einem ursächlichen Zusammenhang stehen.
Dieser Prozess, der intuitiv und vollkommen unbewusst abläuft, kann uns sehr nützlich sein, um schädliche Nahrungsmittel für alle Zeiten zu vermeiden – kann aber eben ab und zu auch in die Irre führen.
Manche Aversionen erwerben wir vermutlich schon sehr früh in der Kindheit. So ist es möglich, dass wir Nahrungsmittel ablehnen, die uns in den ersten Lebensjahren nicht allzu freundlich dargeboten wurden. Wird ein Kleinkind dagegen wiederholt von einem Erwachsenen gefüttert, der dabei besondere Zuneigung zeigt, bevorzugt es die Speise künftig – das machten psychologische Experimente in den USA deutlich.
Außerdem imitieren Neugeborene offenbar bereits nach 36 Stunden den Gesichtsausdruck Erwachsener – etwa wenn die beim Essen eine Abneigung gegen eine bestimmte Kost zeigen. Deshalb verinnerlichen Kinder vermutlich schon sehr früh die individuellen Neigungen ihrer Eltern, so die US-Verhaltensforscherin Alexandra Logue, und übernehmen sie als allgemeingültige Regeln.
Als Erwachsene greifen sie dann vielfach nur deshalb zu bestimmten Speisen, weil sich ihr Gehirn im Laufe der Lebensjahre schlicht daran gewöhnt hat – oder ihnen das Vertrauen in die Speise von ihren Eltern und Großeltern vermittelt worden ist.
Darin offenbart sich eine Eigenschaft der Psyche, die Forscher „Neophobie“ nennen: die Angst vor Neuem (von griech. néo, neu, und phóbos, Furcht). Sie schützt uns Menschen davor, allzu oft Experimente beim Essen zu wagen – und dabei womöglich Unbekömmliches zu uns zu nehmen.
Noch größer ist die Macht der Gewohnheit, wenn auch die Umgebung immer die gleiche ist. Das zeigte kürzlich ein Team von Psychologen an der University of Southern California: Die Wissenschaftler boten 98 Personen, die bei ihren Kinobesuchen