Die eiserne Ferse. Jack London. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jack London
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783966511926
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Dann warf er einen scheuen Blick um sich und sagte:

      »Weil ich eine brave Frau und drei der süßesten Kinder habe, die Ihre Augen je erblickt haben. Deshalb.«

      »Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich.

      »Mit ändern Worten, weil es nicht ratsam gewesen wäre«, antwortete er.

      »Sie meinen —«, begann ich.

      Er unterbrach mich heftig.

      »Ich meine, was ich sage. Ich arbeite seit vielen Jahren in der Spinnerei. Als Kind fing ich an den Spindeln an und habe mich seitdem langsam heraufgearbeitet. Nur durch schwere Arbeit habe ich meine jetzige Stellung erlangt. Ich bin Werkführer, mit Verlaub. Und ich zweifle, dass in der ganzen Spinnerei sich eine Hand ausstrecken würde, um mich vor dem Ertrinken zu retten. Ich war immer Mitglied der Gewerkschaft. Aber bei zwei Streiks habe ich der Gesellschaft geholfen. Sie nannten mich einen Streikbrecher. Nicht einer von ihnen würde ein Glas mit mir trinken, wenn ich ihn dazu einlüde. Sehen Sie die Narben an meinem Kopfe? Sie stammen von Ziegelsteinen, die nach mir geworfen wurden. Kein Kind an den Spindeln, das meinen Namen nicht verfluchte. Mein einziger Freund ist die Gesellschaft. Und nicht aus Pflichtgefühl stehe ich zu ihr, Brot und Butter und das Leben meiner Kinder binden mich an sie. Das ist es.«

      »War Jackson zu verurteilen?« fragte ich.

      »Er hätte Schadenersatz haben sollen. Er war ein guter Arbeiter, der nie krakeelte.«

      »War es Ihnen denn nicht möglich, die ganze Wahrheit zu sagen, wie Sie geschworen hatten?«

      Er schüttelte den Kopf.

      »Die Wahrheit, die reine Wahrheit, und nichts als die Wahrheit?« sagte ich feierlich.

      Wieder wurde sein Gesicht leidenschaftlich erregt, und er hob es nicht zu mir, sondern zum Himmel.

      »Für meine Kinder würde ich Seele und Leib in ewiger Hölle brennen lassen«, lautete seine Antwort.

      Henry Dallas, der Generaldirektor, war ein Mensch mit einem Fuchsgesicht, der mich frech ansah und sich weigerte, über die Sache mit mir zu sprechen. Nicht ein Wort über die Gerichtsverhandlung und seine Aussage konnte ich aus ihm herausbekommen. Aber bei dem anderen Werkführer hatte ich mehr Glück. James Smith war ein Mann mit harten Zügen, und das Herz sank mir in die Schuhe, als ich vor ihm stand. Auch er machte den Eindruck, dass er keinen freien Willen hätte, und als ich mit ihm sprach, bemerkte ich, dass er geistig höher stand als der Durchschnitt seiner Klasse. Er stimmte mit Peter Donnelly darin überein, dass Jackson hätte entschädigt werden müssen, ja, er ging sogar noch weiter und nannte die Handlungsweise, die den durch einen Unfall zum Krüppel gewordenen Arbeiter brotlos gemacht hatte, herzlos und gemein. Er erklärte auch, dass Unfälle in der Spinnerei häufig seien, und dass die Gesellschaft die Politik verfolge, alle sich daraus ergebenden Schadenersatzansprüche bis zum bitteren Ende zu bekämpfen.

      »Das bedeutet jährlich Hunderte und Tausende für die Aktionäre«, und ich musste an die letzte Dividende, die mein Vater erhalten, und an den herrlichen Mantel für mich und die Bücher für meinen Vater denken, die von ebendieser Dividende gekauft worden waren. Ich dachte an den Ausspruch Ernsts, dass an meinem Mantel Blut klebe, und ich begann unter meinen Kleidern zu zittern.

      »Haben Sie bei Ihrer Aussage nicht betont, dass Jackson verunglückte, als er versuchte, die Maschine vor Schaden zu bewahren?« sagte ich.

      »Nein«, lautete seine Antwort, und sein Mund presste sich bitter zusammen. »Ich sagte aus, dass Jackson seinen Unfall selbst verschuldet hätte, und zwar durch Nachlässigkeit und Fahrlässigkeit, und dass die Gesellschaft in keiner Weise verantwortlich oder ersatzpflichtig sei.«

      »War es denn Fahrlässigkeit?« fragte ich.

      »Nehmen Sie es, wie Sie wollen. Tatsache ist, dass ein Mann müde wird, wenn er stundenlang gearbeitet hat.«

      Der Mann begann mich zu interessieren. Er stammte zweifellos aus einer höheren Klasse.

      »Sie sind gebildeter als die Arbeiter im allgemeinen«, sagte ich.

      »Ich habe das Gymnasium besucht«, erwiderte er. »Das ermöglichte ich, indem ich mich als Pförtner anstellen ließ. Ich wollte auf die Universität gehen. Aber mein Vater starb, und ich musste in die Spinnerei. Ich wollte Naturwissenschaft studieren«, erklärte er schüchtern, als gestände er eine Schwäche ein. »Ich liebe Tiere, aber ich musste in die Spinnerei. Als ich zum Werkführer aufrückte, verheiratete ich mich, und dann kam die Familie und — nun ja, da war ich eben nicht mehr mein eigener Herr.«

      »Was meinen Sie damit?« fragte ich.

      »Ich wollte Ihnen gerade erklären, warum ich vor Gericht aussagte, wie ich es tat — ich folgte Instruktionen.«

      »Wessen Instruktionen?«

      »Ingrams. Er schrieb mir die Aussage, die ich zu machen hatte, vor.«

      »Und darum verlor Jackson seinen Prozess?«

      Er nickte, und das Blut stieg ihm dunkel ins Gesicht.

      »Und Jackson hat eine Frau und zwei Kinder zu ernähren.«

      »Ich weiß«, sagte er ruhig, aber sein Gesicht färbte sich noch dunkler.

      »Sagen Sie mir«, fuhr ich fort, »wurde es Ihnen leicht, aus dem gebildeten Menschen, der Sie waren, zu dem Manne zu werden, der Sie geworden sein müssen, um das fertig zu bringen?«

      Ich prallte erschrocken zurück, so unerwartet kam Gefühlsausbruch. Er stieß einen wilden Fluch aus und ballte die Fäuste, als wollte er mich schlagen.

      »Verzeihen Sie«, sagte er im nächsten Augenblick. »Nein, es war nicht leicht. Und jetzt wird es am besten sein, wenn Sie gehen. Sie haben alles, was Sie wollten, aus mir herausgebracht . Aber ehe Sie gehen, möchte ich Ihnen noch eines sagen. Es würde Ihnen nichts helfen, wenn Sie etwas von dem, was Sie von mir gehört haben, weitersagen. Ich würde es leugnen, und Sie haben keinen Zeugen. Ich würde jedes Wort leugnen — wenn es sein müsste, unter Eid auf der Zeugenbank.«

      Nach der Unterredung mit Smith ging ich in das Bureau meines Vaters im chemischen Laboratorium, und dort traf ich Ernst. Die Begegnung war ganz unerwartet, aber er begrüßte mich mit seinem kühnen Blick und seinem festen Händedruck und mit dieser eigentümlichen Mischung von Verlegenheit und Ungezwungenheit. Es schien, als hätte er unsere letzte stürmische Begegnung vergessen; aber ich war nicht in der Stimmung, sie zu vergessen.

      »Ich habe den Fall Jackson verfolgt«, sagte ich unvermittelt.

      Er wartete gespannt, dass ich weitersprechen sollte, aber; ich konnte in seinen Augen die Gewissheit lesen, dass meine Ansichten erschüttert worden seien.

      »Man scheint ihm übel mitgespielt zu haben«, gestand ich. »Ich — ich — glaube, dass etwas von seinem Blute von unsern Dachbalken tropft.«

      »Natürlich«, antwortete er. »Wenn man gegen Jackson und alle seine Genossen barmherzig gewesen wäre, würde die Dividende nicht so fett sein.«

      »Ich werde nie mehr Gefallen an schönen Kleidern finden können«, fügte ich hinzu.

      Ich fühlte mich gedemütigt und zerknirscht, und mich durchrieselte es süß, dass Ernst eine Art Beichtvater für mich war. Dann, wie später immer, stützte mich seine Kraft. Sie schien eine Verheißung von Schutz und Frieden auszustrahlen. »Und ebenso wenig werden Sie Gefallen an Sackleinen finden können«, sagte er mit Nachdruck. »Sie kennen die Jutespinnereien, dort herrschen dieselben Zustände. Dort wie überall. Unsere viel gepriesene Zivilisation ist auf Blut begründet, mit Blut gesättigt, und weder Sie, noch ich, noch sonst irgend jemand kann es vermeiden, von diesem roten Blut befleckt zu werden. Wer waren die Leute, mit denen Sie sprachen?«

      Ich erzählte ihm alles, was vorgefallen war.

      »Und nicht einer von ihnen hatte Handlungsfreiheit«, sagte er. »Sie alle sind an die erbarmungslose Industriemaschine gefesselt. Und das Tragische dabei ist, dass sie alle mit ihrem Herzblut daran gefesselt sind. Ihre Kinder — es ist immer das junge Leben, das