Die Motten sind in das ausgestopfte Känguru geraten, denkt Toni Huber. Das Känguru steht in einer Ecke und hat schon ganz kahle Stellen im Fell. Wenn der Matzl, der Schuldiener, nächsten Sommer kein Naphthalin nimmt, dann fressen uns noch die Motten das ganze Känguru auf. Und nächsten Herbst –
»Hören Sie, Huber, Ihre Frau Mutter soll in der nächsten Sprechstunde zu mir kommen«, sagt die Mikula entschieden.
»Ich habe keine Mutter mehr, Frau Professor«, erwidert die Toni.
Sie sagt es nicht leise, sondern teilt einfach eine Tatsache mit. Die Mikula ärgert sich: Erstens ist es ihr peinlich, sich für eine unbeabsichtigte Taktlosigkeit entschuldigen zu müssen, und zweitens hat sie doch eine Wut auf die Huber. Im Augenblick scheint es ihr, als ob die Huber aus reinem Trotz, aus Widerspruchsgeist keine Mutter mehr habe. »Entschuldigen Sie, ich habe das vergessen«, murmelt sie. Und sachlich: »Dann schicken Sie mir Ihren Herrn Vater her, ich muss mit ihm über Sie sprechen.«
»Ja«, sagt die Toni, »ich werde es ihm sagen.« Sie blickt noch immer das Känguru mit der Glatze an. Dann: »Ich hoffe, dass sich der Friedl freimachen kann, er hat vormittags immer viel zu tun.«
Die Mikula fährt auf: »Von wem sprechen Sie?«
»Ach so«, sagt die Toni, »ich meine, ich hoffe, dass sich der Vater freimachen kann.«
»Es ist sehr wichtig, mein Kind, es handelt sich um Ihren Werdegang«, sagt die Mikula entschieden.
Sie sagt »mein Kind« und meint, »du Fratz«, spürt Toni.
»Das wäre hiemit erledigt. Sie können gehen, Huber«, sagt die Mikula abschließend.
Der Friedl muss zur Mikula, er muss mit ihr reden, überlegt die Toni. Scheußliche Situation. Ich werde heut nach Tisch mit dem Friedl die Sache besprechen. Was die Mikula für ungepflegte Hände hat. Ich hab meistens auch schmutzige Nägel, aber ich bin ja schließlich noch nicht so erwachsen. Die Mikula beißt vielleicht Nägel, sie ist eine unappetitliche Person, sie beißt sogar bestimmt Nägel. Wie sie mich nicht leiden kann, diese Mikula –
»Danke schön, Frau Professor«, flüstert die Toni gewohnheitsmäßig und macht eine ungeschickte Verbeugung.
»Es ist gut, Huber. Grüß Gott«, nickt die Mikula und zieht den Stoß blauer Hefte zu sich heran.
»’ß Gott, Frau Professor«, murmelt die Toni und geht zur Tür. Sie geht sehr aufrecht, mit langen Schritten, sie beißt die Zähne zusammen und haut nicht ein bisschen die Tür hinter sich zu. Auf dem Gang bleibt sie sekundenlang stehen. Man muss sich von der Mikula erholen. Da kommt die Meier vorbei, im Mantel, die Schultasche unterm Arm.
»Was war bei der Mikula?«, fragt sie. Die Lateinstunde war von zwölf bis eins, die Meier hat eine Weile oben im Klassenzimmer auf Toni gewartet.
»Nichts Besonderes«, sagt die Toni, und ihr Gesicht ist bös und verschlossen. »Ich geh voraus, beeil dich und komm in die Kondi«, ruft die Meier und poltert die Stiegen hinunter.
Die Toni steigt ganz langsam in den dritten Stock hinauf, dort ist das Zimmer der achten Klasse. Das Klassenzimmer ist leer, drohend starren die metallenen Kleiderhaken von den Wänden, einsam hängt da ein alter Kamelhaarmantel mit deutlich sichtbaren Ölflecken. Die Toni geht zu ihrem Platz in der letzten Bank, sie holt die Schultasche aus dem Pultfach und wirft das Lateinbuch und die Füllfeder hinein.
Man fühlt sich schrecklich allein in einem leeren Klassenzimmer. Auf der Tafel sind noch Überreste aus der Mathematikstunde. Die Kratochwil hat mit kühnem Schwung eine Hyperbel aufgezeichnet. Hyperbel ist ein gutes Wort für die Kratochwil, denkt Toni, da kommt kein »s« vor. Ellipse ist schon viel schwieriger. Elliptze oder Ellipche. Die Kratochwil ist eigentlich gar nicht gescheit. Aber sie stuckt nächtelang, um Vorzugsschülerin zu sein. Vorzugszeugnisse verderben den Charakter, die Kratochwil sagt nie ein. Die Mikula war sicher auch immer Vorzugsschülerin …
Die Mikula hat wahrscheinlich eine Wut auf mich, weil, ja, wegen der Nase hat sie diese Wut, konstatiert die Toni. Sie hat ein Fenster aufgemacht und benützt die Glasscheibe des offenen Fensterflügels als Spiegel. Jede junge Dame, die notgedrungen noch ein Schulmädel ist, verwendet die Fenster im Klassenzimmer als Ankleidespiegel. Die Toni setzt ihre Pullmankappe auf, sie tritt ganz nahe an die Fensterscheibe heran und beugt sich vor, das Licht blendet so, sie schiebt die Haarsträhne, die nie glatt liegen bleibt, unter die Kappe und rückt diese etwas schiefer. Die Nase … die Nase macht einen frechen Eindruck. Die Toni hat ein sehr junges, noch nicht ganz fertiges Gesicht. Blassen, etwas zu großen Mund mit schmalen Lippen, große, hellgraue Augen mit langen Wimpern. Übrigens hübsche Augen. Es gibt Augenblicke, da diese Augen ganz schmal werden. Toni schiebt das Kinn vor und bekommt ein hartes Gesicht. Bei Unterredungen mit der Mikula, zum Beispiel, wird ihr kleines Gesicht sehr hart und die Toni hat auf einmal – ein Antlitz.
Die Toni ärgert sich oft über ihre Nase. Abgesehen von den vielen Sommersprossen – es scheint nämlich, dass viele helle und ein paar etwas dunklere Sommersprossen gerade Tonis Nase für einen Sommersprossenkongress ausgesucht haben, man könnte auch einmal eine Schälkur machen, aber das kostet sicherlich viel Geld, und der Friedl hat es doch jetzt nicht so – macht die Nase einen unverschämten, mutigen und selbstbewussten Eindruck.
»Sie haben’s notwendig, auch noch diese Frechheit«, zischt die Mikula, wenn sie bemerkt, dass die Toni ihre Hausaufgaben abschreibt. Und dabei könnte die Mikula schon wissen, wie notwendig das die Huber hat. Die Nase ist mein Unglück, konstatiert die Toni und zieht den fleckigen Mantel an. Die Toni ist weder unverschämt noch mutig. Und selbstbewusst, mein Gott, gar nicht besonders selbstbewusst, sie hat gerade nur das bisschen Selbstbewusstsein, das sich jeder einredet.
Jetzt fällt der Toni alles wieder ein. Nicht genügend in Latein. Nicht genügend in Mathematik. Ganz abgrundtiefer Seufzer. Sie fischt aus der Manteltasche ein Riesenportemonnaie. Ein abgegriffenes, altmodisches Portemonnaie, wie es Köchinnen haben, wenn sie auf den Markt gehen. Die Toni hat es zu Hause einmal gefunden. Im Portemonnaie liegen: ein Nagel, den sie auf der Straße gefunden hat – Nägel, die man auf der Straße findet, bringen Glück –, ein vierblättriges Glückskleeblatt, das aber nur noch dreiblättrig ist, ein Blatt ist längst kaputtgegangen, und dreißig Groschen. Die Toni bohrt mit dem Zeigefinger in alle Falten des Portemonnaies, aber es kommt nur noch ein Zweigroschenstück zutage. Dreißig Groschen reichen gerade für eine Cremeschnitte.
Die Toni nimmt die Schultasche, sie hat es sehr eilig, um halb zwei muss sie zu Hause sein, und sie will noch vorher in die Kondi. Die Kondi ist eine kleine Konditorei, aus dem Schultor die Straße geradeaus, dann zweite Gasse links. Dort ist die Kondi, dort gibt es märchenhafte Cremeschnitten für dreißig Groschen, dort warten schon die Meier und die Helmer.
Im ersten Stock prallt Toni mit dem Direktor zusammen. Sie ist sehr gelaufen, sie hat gar nicht aufgepasst, jetzt rempelt sie den Rex an. Und der Rex ist in der Schule der liebe Gott, er thront über den Wolken, er ist die allerallerhöchste Instanz, ein Wort von ihm und man fliegt aus der Schule. Die Toni rempelt diese höchste Instanz an. Entsetzt fährt sie zurück. »O Verzeihung, o Pardon –«, bringt sie mit versagender Stimme hervor. Heute ist ein Unglückstag. Ein ausgesprochener Unglückstag.
Sehr atemlos kommt sie in der Konditorei an. Bei ihrem Eintritt verstummen die Meier und die Helmer. Sie haben sich gerade über das Renkontre des Tages, das Renkontre Mikula – Huber (die Meier liebt vornehme Ausdrücke) unterhalten. Die Toni wirft die Schultasche auf einen roten Plüschsessel – hier gibt es rote Plüschsessel, schäbig, aber immerhin Plüsch – und stürzt zum Verkaufstisch.
»Bitte, eine Cremeschnitte«, sagt sie. Ihre Stimme klingt ganz heiser, die Aufregungen der letzten halben Stunde waren sehr groß.
»Wie bitte?«, fragt das ältliche Fräulein Melanie, die Besitzerin der Kondi. Das Fräulein Melanie ist stocktaub.
»Eine Creeeemeschnitte!«, brüllt die Toni.
»Ach so«, sagt das Fräulein Melanie langsam. Und sehr bedauernd: »Heute sind keine Cremeschnitten