Kopf über Wasser. Wolfgang Millendorfer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolfgang Millendorfer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903184893
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wieder im Badeanzug, die Saunatücher tragen sie über den Schultern. Der Lehrer würde gerne gegen den Mistkübel treten, schüttelt stattdessen nur den Kopf, und eine Lehrerin schüttelt ihren. Alle drei ersparen sich die Diskussion und suchen nach Schülern, die eine Abreibung verdient haben. András geht durchs Bild und trägt eine große Bohrmaschine über der Schulter.

      Im Büro hinter der Glasscheibe hat Werner Antl unter seinem Schreibtisch die Hausschuhe ausgezogen, und Marina kennt den Geruch. Werner darf das. Auch wenn er an seinem Schreibtisch schon lange nichts mehr geschrieben hat. »Was ist bei dir da drüben so los?«, fragt sie freundlich und kommt hinter ihrem Bildschirm hervor. »Ach«, antwortet Werner, »du weißt ja …« Er versucht in ihren Augen zu lesen, ob sie bemerkt hat, dass er seine Hausschuhe ausgezogen hat. »Immer dasselbe«, sagt er, »aber nichts ist umsonst.« Sie lächelt und verschwindet wieder hinter dem Bildschirm.

      »Rose!«, sagt Werner plötzlich, und die Bürotür öffnet sich. »Alles in Ordnung, Kleines?«, fragt Marina, und Rose nickt: »Alles ok.« Werner hält seinen Daumen in die Höhe: »Ist schon Mittag?« – »Gleich.«

      Kurz vor Mittag – jetzt geht’s los: Sie treiben die Schüler zusammen. Die beiden Lehrerinnen und der Lehrer bilden wieder eine Einheit. Das müssen sie auch, denn hier gibt es nichts zu gewinnen. »Raus aus dem Wasser!«, brüllen sie. »Raus aus dem Wasser!« Die ersten Köpfe drehen sich in ihre Richtung, das bleibt vorerst aber die einzige Reaktion. Fred bläst in seine Pfeife und zwinkert den Lehrerinnen zu. Die bemerken es nicht und ihr Brüllen wird noch lauter. Der alte Nazi murmelt aufgebracht und unentwegt, das Wasser schlägt über den Rand, die Tür der Kantine schwingt kurz auf und wird gleich wieder geschlossen.

      »Das kriegen wir hin!«, brüllt Fred und springt aus seinem Plastiksessel. Er rollt den Schlauch aus, dreht am Hahn und will die Schüler im Becken mit kaltem Wasser bespritzen. András hält Fred davon ab. »He!«, brüllt der Lehrer. »He!« Aber die Aufregung wirkt: Einer nach dem anderen kriechen sie aus dem Becken, gehen zu ihren Handtüchern und dann in die Garderobe. Fred imitiert mit Zeigefinger und Daumen eine Pistole und drückt mehrmals ab. Die Lehrerinnen und der Lehrer nicken ihm dankend zu, meinen es aber nicht ernst. Fred setzt sich und sucht nach seinen Zigaretten. Er gibt es ja zu: Er hat inzwischen heimlich zwei Dosen Bier getrunken.

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      Schulklassen sind eine Naturgewalt. Wenn sie weg sind, ist alles nass, alles nass. Irgendetwas bleibt immer liegen, manchmal wird etwas kaputt, manchmal gibt es Blut. Blut ist schlecht, denn das gibt Beschwerden. Denn schuld sind niemals die Kinder, schuld ist der rutschige Boden.

      Deshalb hasst Fred die Schulklassen, weil er hinter ihnen herwischen muss. Das steht nicht in seinem Vertrag. »Ich bin hier der Bademeister, verdammt! Ich bin für die Sicherheit zuständig.« Das war schnell entkräftet – denn: rutschiger, weil nasser Boden ist unsicherer Boden. Und zweitens gibt es gar keinen echten Vertrag. »Beschwer dich, aber wische!« Also wischt Fred. Die Gegend um den Stammplatz des alten Nazis lässt er dabei immer aus. Den alten Nazi kann aber nichts zu Fall bringen, der kennt jede Fliese und steht auf seinen dünnen, grauen Beinen erstaunlich gut da.

      Wenn die Schulklassen weg sind, sagt Fred, dann weiß man wenigstens die Ruhe hier wieder zu schätzen. Da ist schon was dran. Manchmal ist Fred eine Art Philosoph mit einem Wischmopp.

      Ein gestreifter Wasserball treibt von einer Seite zur anderen, er schwimmt allein seine Längen. Fred lehnt seinen Kopf gegen den Stiel des Wischmopps und sieht ihm dabei zu. Eigentlich ein romantisches Bild, das leere Becken, würde nicht zugleich KONKURS! in großen roten Buchstaben auf dem Beckenboden stehen (denn ein leeres Schwimmbecken bezahlt keine Gehälter). Und würde sich nicht der alte Nazi auf seinen dünnen Beinen durchs Bild schleppen. »Alter Sack«, murmelt Fred und wischt weiter.

      Viele gibt es nicht, vor denen der Alte Respekt hat – vor dem großen Boss natürlich auch heute noch. Und vor den Russen, aber das würde er nie zugeben. Ebenso wenig wie die für ihn schmerzliche Tatsache, dass eine ganz eigene Art von Respekt zu tragen kommt, wenn er die Kantine betritt und von den vielen freien Tischen einen aussuchen muss. Einer davon ist fast rund um die Uhr besetzt, dort sitzen Georg und Grant über ihren Gläsern und ihrem Kartenspiel.

      Sie hassen ihn. Er weiß es, das macht ihm auch nichts aus, das kennt er und in gewisser Weise respektiert er das auch. Dass andere ihn hassen. Aber die beiden – sie ignorieren ihn. Und das hat ihm noch jedes Mal das Mittagsmenü verdorben. Das Mittagsmenü gehört aber zu einem Badetag. Heute: Würstel mit Püree. Es schmeckt ihm, könnte aber noch viel besser schmecken, würden nicht Georg und Grant dort an ihrem immer gleichen Tisch sitzen, die Karten mischen und sie lautstark auf die Tischplatte knallen und noch lauter mit ihren Gläsern zusammenstoßen. Georg und Grant haben in der Hallenbadkantine eigene Gläser, mit ihren Namen drauf. Der alte Nazi würde Georg und Grant so gerne zeigen, wie sehr auch er sie hasst. Aber sie ignorieren ihn, und das macht es ihm unmöglich.

      Und schon wieder ist es so weit: Diese lauten Menschen drehen sich um und brüllen quer durch die Kantine, dass man ihnen doch bitte die Luft aus den Gläsern lassen solle. »Pronto, wenn’s geht!« Wie immer beginnt Georg laut zu lachen und das so lang, bis auch Grant mitlacht. Hinter der Schank baut Bella ihren beachtlichen, ihren beachtlich großen Körper auf. Weil das nichts bringt, schlägt sie einmal mit der flachen Hand aufs Holz, und es wird wieder ruhig in der Kantine, denn hier drinnen gibt es nur eine Chefin, das sehen auch die Biergeister ein. »Na?!«, fragt Bella und meint damit Susi. Die kämpft mit dem Zapfhahn, hat dann aber die beiden Gläser voll und trägt sie zum sogenannten Stammtisch (es gibt jeweils zwei Gläser, auf denen Georg und Grant steht, und jeweils eines ist immer voll oder zumindest halb voll). »Na also«, schnauft Bella und serviert sich selbst einen Kaffee. Guten-Morgen-Tasse, steht auf Bellas Kaffeetasse geschrieben. Und: Bitte nicht ansprechen!

      Susi hinkt ein wenig. Sie bemüht sich, aber das reicht nicht. Bemüh dich!, haben die Erwachsenen immer gerufen, als die kleine Susanne zuhause im Hof über die Pflastersteine gehinkt ist. Bemüh dich mehr! Sie hat es versucht, aber nie war einer ganz zufrieden. Am wenigsten sie selbst. Das ist ihr geblieben. Heute steckt Susi in diesen Kellnerinnenschuhen, die mit den belüfteten Fersen und den dicken Sohlen. Die Füße tun ihr dann nicht so sehr weh, aber das Hinken ist geblieben.

      Und so hinkt sie über den Fliesenboden der Kantine, und manches Mal tropft der Bratensaft über die flachen Teller auf die Fliesen, aber Bier wird nie verschüttet. Und trotz ihres Hinkebeins wird sie beobachtet – so wie eine Kellnerin nur von ihren Gästen beobachtet werden kann: mit glasigen Augen. Das übernehmen Georg, Grant und die anderen Biertrinker, die seit Jahrzehnten keine Badehose mehr getragen haben, aber im Hallenbad gern zu den wenigen Stammgästen gezählt werden. Denn: Geht’s der Kantine gut, geht’s auch dem Hallenbad ein wenig besser.

      Georg und Grant haben ihr Bier, stoßen die Gläser aneinander und beenden das Ritual mit ihrem lauten Aaaaah! – ganz so, als ob ihnen Bier noch schmecken würde. Den alten Nazi ärgert das natürlich und er löffelt sein Püree schneller. Susi hinkt zurück hinter die Schank. Willi sieht aus seiner Küche hervor, und sofort fragt Bella: »Hast du da drinnen nichts zu tun?« Willi schüttelt den Kopf, und sie sagt: »Na, dann stell dich zu uns her!« Und da stehen sie zu dritt nebeneinander, Bella, Susi und Willi, und sehen ihren Gästen zu. Kein erfreulicher Anblick, aber das fällt ihnen schon lange nicht mehr auf. Oder sie wissen es längst.

      Fred kommt durch die Tür und steckt sich eine Zigarette in den Mund. »Freddy!« Willi freut sich, wenn er Fred sieht, und der bleibt gelassen, das gehört dazu. »Hast du da draußen nichts zu tun?«, fragt Bella. »Niemand mehr da«, sagt Fred. Die drei hinter der Schank sehen aus dem Fenster in die Halle, die jetzt leer ist. Nur der Wasserball treibt allein durchs Becken. Während er die Zigarette anzündet, geht Fred zum großen Tisch und zieht einen Holzstuhl lautstark über die Fliesen. Der alte Nazi beißt in seinen Löffel.

      Niemand mehr da – das bedeutet Mittagessen. Bella, Susi und Willi lösen die perfekte Dreierreihe, in der sie hinter der Schank gestanden sind, auf. Willi taucht durch seinen Küchenvorhang, Susi sucht nach Gläsern, Bella bleibt genauso stehen. Jetzt kommt auch András