4.2.1 Eine erste vorläufige Hypothese
Es kann gut sein, dass Sophia von den höheren Anforderungen, die nun am Gymnasium an sie gestellt werden, sowohl kognitiv wie auch bezüglich der Lerntechniken und Lernstrategien ziemlich stark gefordert ist. Es kann auch sein, dass die Umstellung an sich, sich in eine neue Lernumgebung einleben zu müssen (neues Schulhaus, neue Lehrpersonen, neue Fächer, neue Klasse) für Sophia nicht einfach ist – darauf deuten gleich mehrere ihrer Aussagen: Biologie sei für sie ein neues Fach, Fremdwörter, also: ihr fremde Wörter, würden ihr Schwierigkeiten bereiten wie auch die Aussage, dass sie trotz grundsätzlich gutem Orientierungssinn immer noch Mühe habe, sich im Schulhaus zurechtzufinden. So betrachtet kann es auch sein, dass die Umstellung, der Schritt von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II an die weiterführende Schule bei Sophia Unsicherheit und Angst auslöst und sie darauf mit Regression reagiert, und das heisst, dass sie bereits erworbene Positionen der Reife aufgibt und sich auf eine frühere Position zurückzieht, in der sie wieder vermehrt mütterliche Zuwendung und Pflege erfährt. Darin würde dann auch Sinn und Nutzen der Lernschwierigkeit bestehen: Sie und ihre Lernschwierigkeiten geben zu reden, sie erhält von mehreren Personen viel Aufmerksamkeit, in der Familie wurde der Ablauf extra für sie umgestellt, auf dass ihre Mutter sich wieder intensiv um sie kümmern kann. Angesichts dieses Nutzens, den Sophia aus ihren Lernschwierigkeiten ziehen kann, stellt sich der Lerntherapeutin die Frage, ob denn Sophia den «Knopf» überhaupt aufmachen will, wie es der Vater ja von ihr fordert. Die Frage nach dem Nutzen der Lernschwierigkeit stellt sich aber nicht einzig in Bezug auf Sophia; sie stellt sich ebensosehr in Bezug auf die Mutter: Beim gemeinsamen Lernen – sie meinte ja: «Wir lernen das so» – erweitert sich auch das Wissen der Mutter und das scheint etwas für sie zu sein, was ihr zusagt, sonst würde sie wohl kaum den tradierten Tagesablauf umstellen, und von ihr kam auch die Frage, ob es bessere Lerntechniken gebe. Und nicht zuletzt gilt es auch zu fragen, ob die Mutter denn überhaupt will, dass Sophia diesen «Knopf», mittels dessen sie ihrer Tochter derart verbunden bleiben kann, auflöst.
4.2.2 Lernschwierigkeiten als Symptom
Diese Überlegungen zu potenziellem Sinn und Nutzen der Lernschwierigkeiten weisen darauf hin, dass diese auch Symptomcharakter haben können. Was aber ist ein Symptom? Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, versteht unter einem Symptom das Produkt einer erfolgreichen Verdrängung und bezeichnet mit Verdrängung den folgenden psychischen Vorgang: Das Subjekt wird von Gedanken, Bildern, Erinnerungen heimgesucht, deren Befriedigung ihm zwar Lust bereiten würden, zugleich aber würde diese Triebbefriedigung im Bewusstsein des Ichs Unlust hervorrufen (Freud, 1915). Im Fall von Sophia könnte das heissen, dass sie in der aktuellen Situation der weiterführenden Schulstufe, die sie als kognitive Herausforderung erlebt und die sie auch bildungsmässig weiter weg von ihren Eltern führt, eigentlich lieber wieder zurück in eine frühere Lebensphase möchte, dass in ihr der unbewusste Wunsch nach mütterlichem Schutz und mütterlicher Nähe wirkt. Dieser Wunsch kollidiert aber mit dem Wunsch, am Gymnasium bleiben zu können und schulischen Erfolg zu haben. Aus dieser psychodynamischen Perspektive betrachtet sind Sophias Lernschwierigkeiten ein Symptom und das heisst, sie sind das Produkt einer erfolgreichen Verdrängung: Die Schulschwierigkeiten ermöglichen es ihr, wieder viel Zeit zusammen mit der Mutter zu verbringen, sie erhält wieder viel Zuwendung von ihr und steht ganz klar im Zentrum der Familie.
4.2.3 Die gemeinsame Arbeit am Symptom
Was aber macht nun der Lerntherapeut mit dieser vorläufigen Hypothese? Er behält sie vorerst einmal für sich, denn würde er die Familie schon jetzt damit konfrontieren, wäre es wohl wirklich eine Kon-frontation: Er würde die Familie, die davon ausgeht, dass Sophias Schwierigkeiten das Resultat fehlender Lerntechniken und -strategien sind, mit dieser These vor den Kopf stossen, ist doch im Erstgespräch seitens der Familie in keiner Weise erwogen worden, dass die Lernschwierigkeiten auch psychodynamisch bedingt sein könnten.[23] In einer Lerntherapie muss diese Sichtweise der Lernschwierigkeit als (potenzielles) Symptom mit dem Ratsuchenden oftmals allererst erarbeitet werden, das macht auch einen der Unterschiede zur Psychotherapie aus. Es darf jedoch nicht vergessen werden: Bei den oben genannten Überlegungen handelt es sich zunächst um eine Vermutung, keinesfalls um gesichertes Wissen des Lerntherapeuten. Die vorläufige Diagnose dient Lerntherapeuten vielmehr als eine Spur, auf die er in den weiteren Sitzungen und Gesprächen mit Sophia achten wird. Dieses Sich-Achten-auf muss sich aber davor hüten, die Wahrnehmung zu sehr auf diese eine Spur auszurichten, es kann nämlich auch sein, dass sich die vorläufige Hypothese als eine nicht zutreffende erweisen wird. Der Lerntherapeut, die Lerntherapeutin muss also offen sein für das, was sich in den Sitzungen und in den Gesprächen mit dem Gegenüber ereignet.
4.2.4 Das gemeinsame Ent-decken der Lernschwierigkeit
Doch wie geht die Lerntherapeutin in ihrer Arbeit nun konkret vor? Zunächst wird sie mit ihrem Klienten an dessen konkreten Lernschwierigkeiten arbeiten, im Fall von Sophia heisst das, diese bringt zum Beispiel Texte aus dem Fach Geschichte mit, die in ihrem Unterricht gerade aktuell sind. Die Lerntherapeutin lässt sich von Sophia zeigen, wie sie solche Lektüreaufträge bislang angegangen ist, und bespricht und überlegt gemeinsam mit Sophia, inwiefern diese Vorgehensweise eine sowohl für Sophia wie auch für den Lerngegenstand produktive ist. Hierbei speist die Lerntherapeutin ihr Fachwissen bezüglich Lerntechniken und -strategien ein und übt mit Sophia auch deren Umsetzung am vorliegenden Unterrichtsstoff. Dasselbe gilt für die Schwierigkeiten im Umgang mit dem umfangreichen Lernstoff im Fach Biologie: Wie hat Sophia bisher gelernt? Wo traten Schwierigkeiten auf? Welche anderen Lernmethoden bieten sich an? Dieses Arbeiten an der konkreten Lernschwierigkeit verfolgt mehrere Ziele gleichzeitig: Einerseits dient es dem Beziehungsaufbau und der Vertrauensbildung, denn die Lerntherapeutin signalisiert dadurch, dass sie Sophia und ihre Schwierigkeiten wie auch das im Erstgespräch formulierte Anliegen, Lerntechniken et cetera vermittelt zu bekommen, ernst nimmt. Andererseits, und das ist ganz wichtig, kommt die Lerntherapeutin vermittels dieser gemeinsamen Arbeit auf niederschwellige Weise mit Sophia ins Gespräch und genau dieses Miteinander-ins-Gespräch-Kommen braucht es, damit sich die Lernschwierigkeiten, deren Herkunft und Zweck weiter erhellen können. Bei diesen Gesprächen und dem Arbeiten am Lerngegenstand achtet die Lerntherapeutin nämlich aufmerksam darauf, wie sich Sophia verhält, und zwar sowohl gegenüber dem Lernstoff wie auch gegenüber der Lerntherapeutin: Bringt Sophia selbst Ideen ein, wie sie vorgehen könnte, oder verhält sie sich eher passiv und wartet auf die Vorschläge der Lerntherapeutin? Das sind sehr wichtige Informationen, da sie etwas über Sophia und ihr psychisches Funktionieren aussagen. Oder anders formuliert: Hier kommt die Übertragung ins Spiel und das heisst: Unbewusste, aus der frühen Kindheit herkommende Wünsche und Beziehungserfahrungen aktualisieren sich in der gegenwärtigen Beziehung. Sophia wiederholt in der Lerntherapie also ihre infantilen Wünsche und Beziehungsmuster, ohne dass ihr das bewusst wäre. Wie verhält sich nun die Lerntherapeutin in dieser Übertragungssituation? Verschiedene Reaktionsweisen sind möglich: Sie macht einfach weiter wie bisher. Dieses Verhalten kann zwei Gründe haben. Entweder ist sie so stark auf das Beseitigen der Lernschwierigkeit fokussiert, dass sie das Beziehungsgeschehen gar nicht reflektiert. Das würde bedeuten, dass sie Metzgers Gedanken vom lerntherapeutischen Dreh vernachlässigt, und das ist dann wohl die schlechteste Prognose für das Gelingen der Lerntherapie, oder – zweiter möglicher Grund – Sophias Verhalten bedient den mehr oder weniger bewussten Wunsch der Lerntherapeutin, in einer Beziehung diejenige zu sein, die die Instanz des Wissens darstellt und aufgrund ihres Wissens Hilfe leisten kann. Das ist jedoch für das Gelingen der Lerntherapie auch nicht viel besser als der erste Erklärungsansatz, für Sophia läuft es wohl auf das Gleiche hinaus: Es mag sein, dass sie im Rahmen der Lerntherapie ihr Lernen temporär verändern kann, eine nachhaltige Veränderung wird ihr aber wohl kaum gelingen, da der Symptomcharakter des Problems nicht zur Sprache gekommen ist und also in ihr weiter wirkt. Auf dass die in der Übertragung artikulierende Wiederholung aufgelöst werden kann, muss die Lerntherapeutin einerseits Einsicht haben in ihre eigenen Wünsche, die ihre Reaktionsweise auf ihre Klienten als Rat suchende Subjekte mitbestimmen. Darum auch ist die eigene Therapie unabdingbares Element der Lerntherapie-Ausbildung.[24]