Daniel Hartmann
STERNENHAGEL
Daniel Hartmann
STERNENHAGEL
Eine Erzählung über das Prinzip
der Liebe
Giger
Infos über den Verlag und zu weiteren Büchern
unter www.gigerverlag.ch
1. Auflage 2019
© Giger Verlag GmbH, CH-8852 Altendorf
Telefon 0041 55 442 68 48
www.gigerverlag.ch Umschlaggestaltung:
Simon Hofer Creative GmbH, Muri bei Bern
Layout und Satz: Roland Poferl Print-Design, Köln
e-Book: mbassador GmbH, Basel
Printed in Germany
ISBN 978-3-907210-37-6
eISBN 978-3-907210-39-0
Für Deborah und Lana
Im Gedenken an David Stroh Buckel
und Charles Sanders Peirce
Inhalt
In der Höhle der Ewigkeit
Der Entschluss
Im Spiegel der Menschheit
Die Legende aus dem Morgenland
Unheil
Das Kastell
Licht im Morgengrauen
Die Prüfung
Wahre Wirklichkeit und wirkliche Wahrheit
Der Tod kommt zweimal
Die Verschwörung
Vom Sinn des Lebens
Die geheiligte Organisation
Der Zyklon
Scharfrichter und Schwur
Der Gedenkgottesdienst
Abreise und Heimkehr
Die Erfüllung des Wunsches
Epilog
Dank
Es geht die Legende aus dem Morgenland, dass wenn ein Tier und ein Mensch exakt zur gleichen Zeit geboren werden, auch ihre Sehnsucht nacheinander erwacht. Von dem Augenblick an suchen sie einander und ruhen nicht eher, bis sie sich gefunden haben. Dann tanzen sie den Tanz der Liebe. Die ganze Welt verneigt sich vor den beiden und Gott Horus lächelt ihnen zu. Wenn dies geschieht, erleuchtet sie des Gottes überirdische Kraft und sie sind auserwählt, gegen die Schlange Apophis, die Missionarin des Bösen, zu streiten. Ihr Leben lang. Und stirbt das Eine, so auch das Andere. Zur selben Zeit. Verschränkt als Eins in Ewigkeit. Doch Seth, der Gott des Chaos und Verderbens, sucht dieses Band zu zerstören. So jedenfalls erzählt es die Legende.
Der Meteor
Donnerstag, 12. Dezember, 16:30 UhrSchweiz, Dorf Cappellen
Innerhalb weniger Tage war das Thermometer von erstaunlichen 18 auf eisige –5 Grad gefallen. Ab Mitte November war die Witterung abnormal mild gewesen. Starke Regenfälle hatten vielerorts zu Überschwemmungen geführt. Überhaupt hatte das Wetter beinahe das ganze Jahr über verrückt gespielt. Weder Meteorologie noch Bauernregeln wurden ihm Herr. Im April war es losgegangen: Der wärmste Monat seit 137 Jahren wurde gemessen. Minusgrade im Mai brachten nochmals Schnee bis in die Niederungen und verursachten massive Schäden in Obst- und Gemüseplantagen. Dann rollte eine wochenlange Hitzewelle durch den Hochsommer. Die Dürre griff mit ihrer trockenen Hand nach allem, was die Kälte überstanden hatte. Die Bauern waren gezwungen, per Hubschrauber Wasser ins Oberland und auf die Alpen fliegen zu lassen, damit Kühe und Geißen nicht verdursteten. Und was an Weizen, Gerste, Dinkel und Mais noch stand, wurde durch tornadoartige Stürme und Starkregen plattgemacht. Das Bundesamt für Landwirtschaft erhöhte notfallmäßig die Kontingente für die Einfuhr von Agrarerzeugnissen, um die Nahrungsmittelversorgung der Schweiz sicherzustellen.
Nun war der Jagisbach am Montag über sein Bett hinausgetreten. Er schoss neben der Kirche, die auf einem Hügel stand, vorbei ins Große Moos und das Wasser bildete eine ansehnliche, gefrorene Lache. Ganz zur Freude der Kinder und Jugendlichen, die im Schneegestöber Schlittschuh liefen.
Kurz bevor es Nacht wurde, tanzten die letzten Schneeflocken davon und die kalte Luft ermöglichte noch einen Blick nach Osten über die sich leicht senkende Moosebene. Bis hin zum rund sechs Kilometer entfernten Schwarzen Forst. Die verschneiten Baumwipfel des konisch aufsteigenden Wohleyberges waren knapp zu erkennen, wenn man die Augen zukniff. Trotz der tiefhängenden Wolken.
Die Dämmerung schlich heran und leerte das Eisfeld. Kirchensigrist Tobias Kupfernagel kontrollierte, dass die jungen Leute nichts liegen gelassen hatten. Mitten im Rundgang blieb er stehen, blickte zum Himmel Richtung Nordwesten, wie einer, den eine düstere Vorahnung quält. Ein Schwarm Krähen flog über ihn hinweg. Dann stieg der Kirchendiener seines Asthmas wegen langsam den Hügel hinauf in die Kirche.
Auf der Orgelempore zog der große, hagere Mann mit den eingefallenen Wangen einige Register, setzte sich gebückt an den Spieltisch, legte bedächtig seine Hände auf die Manuale und schloss die Augen. Kurz darauf hallte es durch das Mittelschiff. Spielend und singend schaute Kupfernagel zum Kirchenfenster hinaus und das Glas spiegelte seine Augen, in denen etwas Rätselhaftes lag:
»It’s time for me to break away, from what I once had been. Through the years I felt and saw like every other man. What can I become? What will I find in me? …«
Dunkel ruhte das Dorf Cappellen mit seinem Weiler Hübeli auf einem malerischen Rücken der unteren Süßwassermolasse, den urzeitliche Flüsse vor fünfundzwanzig Millionen Jahren aus mitgerissenem Geröll der Westschweizer und Savoyer Alpen gebildet hatten. Kupfernagel lauschte dem letzten verklingenden Ton. Würde auch die Erde bald so verklingen durch die Hand der Menschen, die es als ihre Aufgabe ansahen, zu herrschen und nicht zu bewahren? Die vordrängende Winternacht zündete erste Lichter an und wechselnde Schattenrisse in Fenstern zeugten von geschäftigem Treiben in den Häusern.
Donnerstag, 12. Dezember, 17:10 Uhr,Cappellen, Weiler Hübeli
Die Kälte hatte in den letzten Tagen Eisblumen auf das Küchenfenster gemalt, die Anna mit einem Lächeln betrachtete, während sie ihre Balletttasche abstellte. Ihr Zeigefinger folgte den feinen Linien.
Am Küchentisch knetete Annas Mutter, Rhea, Teig für Mailänderli. Annas Lieblingsguetzli.
Das Küchenradio spielte leise Bachs »Kleines harmonisches Labyrinth«. Rhea zog die Augenbrauen hoch, stellte den Sendersuchlauf ein und es erklang »Mascagnis Intermezzo Sinfonico«. Sie drückte den Suchlauf nochmals und als der Beat von Wham! anklopfte, drehte sie das Radio lauter. Wie jedes Jahr. Und wie jedes Jahr stimmten beide ein.
Mutter und Tochter liebten Weihnachtslieder und sie sangen »Last Christmas« mit, bis eine energische Männerstimme aus dem Radio drang:
»ACHTUNG, ACHTUNG! An alle Bewohnerinnen und Bewohner im Mittelland, ab morgen Mittag ist mit sehr heftigem Schneefall zu rechnen. Im Verlaufe des Nachmittags wird sich dieser zu einem starken Schneesturm entwickeln. Der meteorologische Wetterdienst geht davon aus, dass innerhalb