Mein »Thomas More« war die erste größere historische Arbeit, die einer der deutschen Schüler von Marx und Engels auf Grund der von unseren Meistern entwickelten materialistischen Geschichtsauffassung veröffentlichte. Diese damals noch wenig beachtete Auffassung ist seitdem in der Sozialdemokratie und mit ihr zu einer das ganze proletarische Denken beherrschenden Methode geworden; in demselben Maße sind freilich auch die kritischen Angriffe gewachsen, die gegen sie geschleudert wurden, und nicht bloß aus den Reihen unserer Gegner. Aber alle diese Kritiken und Krisen haben Gedeihen und Wachstum der materialistischen Geschichtsauffassung nicht im geringsten beeinträchtigt, und sie zeigt ihre befruchtende Wirkung ebenso in einer von Jahr zu Jahr sich mehrenden wissenschaftlichen Literatur der verschiedensten Sprachen, die uns immer tiefere Einblicke in Vergangenheit und Gegenwart erschließt, wie in der Sicherheit und Konsequenz, die sie der Praxis des proletarischen Klassenkampfes in allen Kulturländern verleiht. Derartige Wirkungen sind aber der Prüfstein, an dem eine Methode des Forschens und Denkens am sichersten erprobt wird: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
Berlin, im März 1907.
Karl Kautsky.
Erster Abschnitt. Das Zeitalter des Humanismus und der Reformation.
Einleitung.
Zwei gewaltige Gestalten stehen an der Schwelle des Sozialismus: Thomas More und Thomas Münzer, zwei Männer, deren Ruf zu ihrer Zeit ganz Europa erfüllte: der eine ein Staatsmann und Gelehrter, der die höchste politische Stellung in seinem Vaterland erstieg, dessen Werke die Bewunderung seiner Zeitgenossen erregten; der andere ein Agitator und Organisator, vor dessen rasch zusammengerafften Proletarier- und Bauernhaufen die deutschen Fürsten erzitterten. Beide voneinander grundversch-ieden im Standpunkt, der Methode, dem Temperament, beide gleich in ihrem Endziel, dem Kommunismus, gleich an Kühnheit und Überzeugungstreue, gleich in ihrem Ende: beide starben auf dem Schafott.
Mitunter sucht man More und Münzer den Ruhm streitig zu machen, die Geschichte des Sozialismus zu eröffnen. Entsprechend der beliebten Phrase: es hat immer Arme gegeben und wird immer Arme geben, erklärt man auch, es habe immer Sozialisten gegeben und werde immer welche geben, natürlich, ohne daß sie je ihrem Ziele näher kämen, und sucht uns zum Beweis aus dem Altertum eine Reihe von Sozialisten vorzuführen, von Lykurg und Pythagoras bis zu Plato, den Gracchen, Catilina, Christus, seinen Aposteln und Jüngern.
Es fällt uns nicht ein, leugnen zu wollen, daß mit der Entwicklung der Warenproduktion sich bereits im Altertum eine Klasse besitzloser Freier entwickelte, die von den Römern Proletarier genannt wurden. Auch zeigten sich bereits im Zusammenhang damit Bestrebungen nach Aufhebung oder Milderung mancher sozialen Ungleichheiten. Aber das antike Proletariat war ein ganz anderes als das moderne. Es ist dies schon so oft dargetan worden, daß wir es nicht nötig haben, hier näher darauf einzugehen. Genug, der Unterschied zwischen dem modernen und dem antiken Proletarier ist der zwischen dem unentbehrlichen Arbeiter, auf dem die ganze Kultur beruht, und dem lästigen schmarotzenden Bummler.
Ebenso verschieden wie das antike Proletariat vom modernen, ist der antike sogenannte »Sozialismus« vom modernen. Die Verschiedenheit der beiden nachzuweisen, würde eine eigene Abhandlung erfordern, welche die ganze antike Geschichte umfassen müßte, da die verschiedenen antiken »sozialistischen« Bestrebungen, die, oberflächlich betrachtet, als Äußerungsformen desselben Prinzips erscheinen, in Wirklichkeit durch die verschiedensten Ursachen veranlaßt worden sind und den verschiedensten Tendenzen dienten.
Die herkömmliche Geschichtsschreibung glaubt im Rom des Julius Cäsar und im Athen des Demosthenes dasselbe Proletariat zu finden, wie im Paris Napoleon III. und im Berlin des kleinen Belagerungszustandes. In Wirklichkeit ist aber nicht einmal das moderne Proletariat in der kurzen Spanne von kaum 400 Jahren, in der es besteht, stets dasselbe gewesen, sondern hat in dieser Zeit gewaltige Veränderungen durchgemacht, entsprechend der gleichzeitigen ökonomischen Entwicklung. Das Proletariat von heute zeigt sich bereits in wesentlichen Punkten verschieden von dem von 1848, wie viel mehr denn von dem der Zeit der »Utopia«! Das Kapital stand damals erst am Anfang seiner ökonomischen Revolution; der Feudalismus übte noch eine ausgedehnte Macht auf das wirtschaftliche Leben der Masse des Volkes. Noch nahmen die von den neuen Interessen bedingten neuen Ideen das Gewand der dem Feudalismus entsprossenen Gedankenwelt an, und diese wirkte in traditionellen Illusionen fort, nachdem die ihr entsprechende materielle Unterlage schon in ihren Grundfesten erschüttert war.
Dem eigentümlichen Charakter dieser Zeit mußte auch der damalige Sozialismus entsprechen. More war ein Kind seiner Zeit; er konnte über deren Schranken nicht hinaus; aber es zeugt von der Genialität seines Scharfsinns, vielleicht zum Teil auch seines Instinktes, daß er in der Gesellschaft seiner Zeit bereits die Probleme sah, welche sie in ihrem Schoße trug.
Die Grundlagen seines Sozialismus sind moderne, jedoch von so viel Unmodernem überwuchert, daß es oft ungemein schwer ist, sie bloßzulegen. Reaktionär wird der Sozialismus Mores freilich nirgends in seiner Tendenz; dieser war weit davon entfernt, gleich manchen »Sozialreformern« des neunzehnten Jahrhunderts, in der Rückkehr zu feudalen Zuständen das Heil der Welt zu erblicken. Aber vielfach standen ihm zur Lösung der Probleme, die er vorfand, nur die Mittel der Feudalzeit zu Gebote. Da mußte er sich denn oft gar sonderbar drehen und wenden, um sie seinen modernen Zwecken anzupassen.
Wer daher ohne weiteres an den Moreschen Kommunismus herantritt, dem werden manche seiner Ausführungen verschroben, bizarr, launenhaft erscheinen, die in Wirklichkeit auf einer gründlichen und wohldurchdachten Erkenntnis der Bedürfnisse und Mittel seiner Zeit beruhen.
Wie jeder Sozialist, kann auch More nur aus seiner Zeit verstanden werden. Diese ist aber schwieriger zu verstehen, als die irgend eines späteren Sozialisten, da sie von der unseren verschiedener ist. Ihr Verständnis setzt die Bekanntschaft voraus nicht nur mit den Anfängen des Kapitalismus, sondern auch mit den Ausgängen des Feudalismus, vor allem ein Verständnis der gewaltigen Rolle, welche die Kirche auf der einen Seite, der Welthandel auf der anderen Seite damals spielten. Auch More ist durch beide auf das tiefste beeinflußt worden, und es hieße leeres Stroh dreschen oder sich mit allgemeinen Phrasen an der Oberfläche der Dinge bewegen, wenn wir versuchen wollten, ein Bild der Persönlichkeit und der Schriften des ersten Sozialisten zu entwerfen, ohne die historische Situation, deren Produkt er war, wenigstens in einigen großen Zügen gezeichnet zu haben. Dies ist die Aufgabe des ersten Abschnitts unserer Schrift.
Erstes Kapitel. Die Anfänge des Kapitalismus und des modernen Staates.
1. Der Feudalismus.
»Die Wissenschaften blühn, die Geister regen sich, es ist eine Lust, zu leben«, rief Hutten von seiner Zeit. Und er hatte recht. Für einen kampffrohen Geist, wie den seinen, war es eine Lust zu leben in einem Jahrhundert, das die überkommenen Verhältnisse, die ererbten Vorurteile kühn umstieß, die träge gesellschaftliche Entwicklung in Fluß brachte und den Horizont der europäischen Gesellschaft mit einem Male unendlich erweiterte, das neue Klassen schuf, neue Ideen, neue Kämpfe entfesselte.
Als »Ritter vom Geist« hatte Hutten alle Ursache, sich seiner Zeit zu freuen. Als Mitglied der Ritterschaft durfte er sie mit weniger günstigen Augen betrachten. Seine Klasse war damals auf der Seite der Unterliegenden: sein Schicksal war das ihre. Sie hatte nur die Wahl, zu verkommen oder sich zu verkaufen, im Dienste eines Fürsten die Existenz zu finden, die der Grund und Boden versagte.
Die Signatur des sechzehnten Jahrhunderts ist der Todeskampf des Feudalismus gegen den aufkommenden Kapitalismus. Es trägt das Gepräge beider Produktionsweisen, bietet ein wunderliches Gemisch beider dar.
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