Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs setzte sich Jonas mit den Ursachen des moralischen wie intellektuellen Scheiterns seines Lehrers Heidegger auseinander, die er in eben jenem ethischen Nihilismus erblickte, und entwarf eine „Philosophie des Organischen“. Sie sollte es dem mit Geist und Freiheit begabten Menschen ermöglichen, sich als integraler Teil einer ganz und gar nicht seelenlosen, sondern sich selbst bejahenden, wertvollen Natur zu begreifen, für deren Integrität und Fortexistenz der Mensch verantwortlich ist. Auf der Ebene der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit individuellen Lebens – dem Altern und Sterben – begründet diese Haltung zudem eine für die medizinethischen Debatten der Gegenwart faszinierend natürliche, schlichte Bejahung der Sterblichkeit als eines Bestandteils organischer Existenz. Es ist kein Zufall, daß Jonas auf die philosophische Begründung der Ethik der Verantwortung, die auf das engste mit seiner Interpretation menschlichen Lebens zusammenhängt, in den achtziger Jahren eine ganze Reihe ethischer Konkretionen in so umstrittenen Bereichen wie der Humanbiologie und der Medizin folgen ließ und dort auch für die Gegenwart entscheidende ethische Leitlinien formulierte. Sie gehen von dem grundsätzlichen Recht des Fortschritts der Forschung aus, ziehen aber zugleich klare Grenzen, wobei der Maßstab stets in der Bewahrung der Würde der Person und der Integrität des Menschenbildes sowie in der Achtung vor den unantastbaren Grundphänomenen des Lebens – der Natürlichkeit von Geborenwerden und Sterben – besteht.
Als Philosoph sah sich Jonas in erster Linie der Vernunft verpflichtet und wollte eine universal plausible logisch-vernünftige Zukunftsethik entwickeln, die auf Strategien der Demut, des Verzichts, der Selbstbegrenzung und der Ehrfurcht vor dem Leben zielte. Dennoch reflektierte er in diesem Zusammenhang auch über die ethische Relevanz der jüdischen und christlichen Tradition der Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit menschlichen Lebens und brachte seine Verantwortungsethik mit der Kategorie der „Heiligkeit des Lebens“ ins Gespräch. In allen Phasen seines Werkes taucht zudem ein geheimes Thema immer wieder auf, das Jonas in seinem Spätwerk als „metaphysische Vermutungen“ bezeichnete: ein unablässiges denkerisches Bemühen um die Frage nach Gott. Auf Grund der neuzeitlichen Infragestellung aller Metaphysik und der Erfahrung von Auschwitz, die aus seiner Sicht jegliche traditionelle Rede von Gott ins Undenkbare verbannte, erforderte insbesondere das Problem der Theodizee eine ganz neue, radikale Interpretation des Gottesbegriffs.
Philosophie und Religion wies Jonas zuletzt die Aufgabe zu, sich unbeirrt von allen Zweifeln an der Wirksamkeit ihrer ethischen Maximen in der eigendynamischen modernen Industriegesellschaft dem Verhängnis menschlicher Machtentfaltung zu stellen. Zu wissen, daß die Menschheit für alle Zukunft im Schatten drohender Folgen des eigenen technologischen Handelns wird leben müssen, ohne dabei dem Fatalismus zu verfallen – diese Herausforderung gehört zu dem bleibenden Vermächtnis des Philosophen. In seiner mit „Technik, Freiheit und Pflicht“ überschriebenen Rede, die er anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1987 hielt, brachte er seine Überzeugung von der Sinnhaftigkeit des zerbrechlichen menschlichen Lebens und sein denkbar aktuelles Plädoyer für eine nüchterne Hoffnung und für ein verantwortliches Handeln in Formulierungen zur Sprache, die auch den Titel des vorliegenden Buches inspiriert haben: „Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: Er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dies Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unsern Weg – zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft. So kommt am Ende doch das Prinzip Verantwortung mit dem Prinzip Hoffnung zusammen – nicht mehr die überschwengliche Hoffnung auf ein irdisches Paradies, aber die bescheidenere auf eine Weiterwohnlichkeit der Welt und ein menschenwürdiges Fortleben unserer Gattung auf dem ihr anvertrauten, gewiß nicht armseligen, aber doch beschränkten Erbe. Auf diese Karte möchte ich setzen.“
Der Aufbau dieses Bandes konzentriert den Blick auf drei wesentliche Aspekte, die den inneren Zusammenhang von Biographie, zeitgeschichtlichen Umständen und den differierenden Strängen des wissenschaftlichen Œuvres von Hans Jonas sichtbar machen. Der erste Teil befaßt sich zunächst mit Jonas’ Verwurzelung im deutsch-jüdischen Milieu sowie überhaupt im deutschen kulturellen wie geistesgeschichtlichen Kontext vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung“. Er eröffnet sodann eine vergleichende Perspektive auf zwei ebenfalls aus dem deutschen Judentum stammende wichtige Weggefährten, die sich – auf dem Hintergrund der Schoah – zeitlebens mit ähnlichen religionsgeschichtlichen (Gershom Scholem) und ethischen (Günther Anders) Fragestellungen auseinandergesetzt haben, aber zum Teil zu durchaus unterschiedlichen Schlußfolgerungen gelangten. Der zweite Teil widmet sich der Bedeutung und Aktualität der religionsgeschichtlichen und -philosophischen Arbeiten von Hans Jonas. Aus der Perspektive eines in den vergangenen Jahrzehnten durch den Fortschritt der Forschung stark differenzierten Verständnisses der spätantiken Religionsgeschichte erfährt Jonas’ philosophische Gnosisdeutung Würdigung und Kritik; sie wird auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit Heidegger analysiert und mit anderen zeitgenössischen politisch-philosophischen Interpretationen des Phänomens verglichen. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Abschnitts beleuchtet aus unterschiedlichen Perspektiven Jonas’ Reflexionen über den „Gottesbegriff nach Auschwitz“, die in den sechziger Jahren – zeitgleich mit der Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Gnosis und Existentialismus – einsetzten und mit den Arbeiten über die Gnosis auf vielfältige Weise verbunden sind: nicht allein durch das Interesse an Religion überhaupt, sondern vor allem auch durch den für den Philosophen charakteristischen antinihilistischen Impuls, durch das Aufgreifen einzelner gnostischer Motive und die Verwendung der Form des philosophischen Mythos, die ihm auf Grund seiner religionsgeschichtlichen Arbeiten so vertraut war. Jonas’ Nachdenken über einen Gott, der sich im Laufe der Evolution um der Freiheit seiner „Schöpfung“ willen seiner Allmacht entäußerte und dem Handeln der Menschen auslieferte, wird im Kontext jüdischer Tradition und jüdischer Religionsphilosophie nach Auschwitz kritisch beleuchtet und auf den Zusammenhang mit seiner philosophischen Ethik hin befragt. Im Zentrum des dritten Teils steht die Frage nach der Begründung, Bedeutung und zukunftsethischen Relevanz von Jonas’ Entwurf Das Prinzip Verantwortung. Auf dem Hintergrund wissenschaftsgeschichtlicher Überlegungen zu seiner „Philosophie des Organischen“, der Interpretation ihrer Funktion für die Begründung der Ethik der Verantwortung und eines Blicks auf Jonas’ Begriff der Freiheit wird dessen nüchterne, antiutopische und auf die Bewahrung der Zukunftschancen kommender Generationen zielende philosophische Ethik mit dem utopischen Entwurf Ernst Blochs und alternativen Entwürfen intergenerationeller Gerechtigkeit in der demokratischen Massengesellschaft konfrontiert. Am Schluß stehen Reflexionen über die orientierende Kraft des „Prinzips Verantwortung“ für die konkreten ökologischen, bioethischen und sozialethischen Debatten der Gegenwart.
Ziel dieses Bandes ist es, die so unterschiedlichen und doch unauflöslich miteinander verbundenen Facetten des Werkes von Hans Jonas zusammenzuschauen und auf diese Weise ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Ethik, Geschichtswissenschaft, Religionsgeschichte, Theologie und Judaistik über die intellektuellen Herausforderungen anzuregen, die sein Denken auch für das einundzwanzigste Jahrhundert in sich birgt. Dabei vermitteln die ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Jonas’ Denken, die sich in den einzelnen Beiträgen widerspiegeln, nicht nur einen Eindruck von dessen Reichtum und Vielfalt. Sie lassen zugleich erkennen, daß auch in Zukunft nicht mit einer einlinigen Rezeption zu rechnen ist. Die in einzelnen Beiträgen aufscheinenden konträren Sichtweisen – ob nun mit Blick auf die religionsgeschichtliche Bewertung des Phänomens der Gnosis, die Bedeutung Heideggers für Jonas’ Philosophie, die Tragfähigkeit des „Prinzips Verantwortung“ für die konkreten gesellschaftlichen und ethischen Probleme der Gegenwart oder die Relevanz jüdischer Existenz im zwanzigsten