„Mein Leben ist gelaufen“, heulte ich und sprang Tina an den Hals.
„Aber Süße ...“
Tina arbeitete immer noch in der Escort-Agentur. Doch seit sie diese Riesenkugel vor sich her schob, machte sie meistens Bürodienst, denn Männer, die so schräg drauf waren, dass sie für eine Nacht mit einer Schwangeren ein Vermögen ausgaben, waren rar gesät. Abgesehen davon war Tina dafür noch nicht schwanger genug. Diese Nische zahlte sich erst im letzten Monat der Schwangerschaft aus.
„Ich bin so doof“, heulte ich und schüttele Tina tränenreich mein Herz aus. Angefangen von dem Masterarbeit-Desaster und der Tatsache, dass meine beiden Studentenjobs jetzt flöten waren, bis hin zu der Tatsache, dass ich gerade auch noch meinen Barjob geschmissen hatte.
„Aber was ist denn passiert, Süße? Warum musstest du denn aus der Bar fliehen, obwohl du doch jetzt eigentlich mehr Stunden dort arbeiten müsstest?“
Tina streichelte mir den Rücken und gab mir kleine Küsse ins Haar, was mich noch mehr heulen ließ, da die zärtlichen Gesten mich jetzt auch noch an Jacob erinnerten. Das war nämlich fast noch das Schlimmste an der ganzen Geschichte: In der Zwischenzeit hatte ich fast vergessen, dass dieser Mann nicht ganz richtig tickte mit seiner Callgirl-Bucherei. Jetzt liebte ich ihn nur noch.
„Nun beruhige dich mal wieder. Das ist doch alles halb so schlimm“, redete meine Freundin mit Engelszungen auf mich ein. „Du gehst jetzt ins Bad, wäschst dein Gesicht und dann rufst du Rudy an.“
„Aber Rudy ist doch gar nicht da.“
„Umso besser. Dann hat dein Boss noch nichts bemerkt. Sprich mit einem Kollegen. Am besten mit einem männlichen. Die sind sowieso verständnisvoller.“
„Es ist doch nur Kelly da. Was soll ich der Armen denn erzählen? Dass ich die Freunde von deinem Ex-Kunden gesehen habe, in den ich mich unsterblich verliebt habe? Kelly muss die ganze After Work Party allein schmeißen. Ich habe sie im Stich gelassen.“
Schon wieder strömte literweise Tränenflüssigkeit aus mir heraus. Meine Nase fühlte sich an, als hätte sie die Ausmaße einer riesigen Folienkartoffel.
„Du hast aber auch gar keine bösen Ideen“, schimpfte Tina mich scherzhaft aus. „Du sagst, dass du plötzlich eine flotten Heinrich bekommen hast und die Waschräume der Bar nicht versauen wolltest. Sowas leuchtet jedem ein.“
„Flotter Heinrich?“
„Durchfall, du Dummerchen.“
„Ich schäme mich so, dass ich mich so gehen lasse. Dabei ist Ron doch viel schlimmer dran als ich.“
„Der hat auch ein Problem? Meine Güte, da ist ja was los bei euch.“
Das von Ron wusste Tina noch nicht, und ich klärte Tina, die ja eigentlich genug eigene Probleme hatte, aber wenigstens kein neu dazu gekommenes, auch über das Problem unseres Freundes mit seinem Freund Jonathan auf.
„Ron soll sich mal nicht so künstlich aufregen. Das gibt sich doch wieder. Jonathan ist einfach noch nicht bereit für ein Coming-out vor seiner Familie“, meinte Tina gelassen.
Seit sie sich gegen die Abtreibung und für das Baby entschieden hatte, war Tina sowieso die Gelassenheit in Person. Sie hatte die letzten grünen Brocken ins Klo gespuckt und bereitete sich seitdem auf ihre Rolle als Mutter vor.
„Ich bewundere dich so sehr, Tina“, jaulte ich.
„Mann, Emma, jeder Mensch hat ein Recht darauf, sich auszuheulen, wenn es ihm schlecht geht! Deine Probleme sind auf jeden Fall ernster als die von Ron, die sich, glaube mir, ga-ran-tiert in Luft auflösen werden. Gib mir dein Handy, dann ruf ich für dich in der Bar an. Ich regele das.“
„Das willst du wirklich für mich tun?“
„Hast du vergessen, was du alles für mich getan hast, Mutter Theresa?“
„Aber das war doch selbstverständlich.“
„Und was glaubst du, was das ist, was ich jetzt für dich tue?”
Tina riss mir mein Handy aus der Hand und rief in der Bar an.
Während sie mit Rudy, der inzwischen in der Bar aufgetaucht war, herumalberte, dass ich angeblich bereits mit dem Klo verwachsen wäre, stopfte ich mir zur Beruhigung Tinas Kekse rein. Es waren selbst gebackene. Seit Tina sich auf ihre Mutterrolle vorbereitete, kochte und buk sie andauernd.
„So, meine Süße, Kelly hat zwei deiner Kollegen erreicht und dein Job ist gerettet. Du kannst so viele Stunden machen wie du willst, hat Rudy gesagt. Du gehst morgen einfach pünktlich zur Arbeit und gut ist.”
Ich verschlang Tinas letzten Keks und warf mich ihr wieder an den Hals. „Danke, Tina, danke! Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte!“
„Jetzt krieg dich mal wieder ein. Und die zweitbeste Note zu bekommen ist auch kein Verbrechen. Ich wäre froh, wenn ich überhaupt einen Abschluss hätte. Irgendjemand wird dich schon einstellen. Und warum willst du überhaupt unbedingt an ein College? Das hattest du doch jetzt wohl lang genug, um zu wissen, dass da auch bloß Idioten rumlaufen.“
Tina hatte ja irgendwie recht. Ich schniefte trotzdem furchterregend.
„Kannst du mal einen Moment aufhören mit der Heulerei? Hier ruft ein Kunde an.”
„Ja, sofort“, heulte ich.
„Ich meine es ernst.“ Tina hielt den Hörer bereits in der Hand.
„Was ist?“, fragte ich bibbernd. In Tinas Augen stand plötzlich so ein komisches Glitzern und sie blies die Backen auf wie zwei Ballons.
„Die Nummer kenne ich.“
„Wenn es der Vater deines Kindes ist, das Schwein, dann gib mir das Telefon“, platzte ich heraus, bereit für die Rechte meiner Freundin und ihres Kindes zu kämpfen.
Tina schüttelte den Kopf und legte ihren Zeigefinger auf die Lippen, damit ich die Klappe hielt. Sie drückte sich den Hörer ans Ohr.
„Agentur Florence. Mein Name ist Charlene. Was kann ich für Sie tun, Sir?”
4
SHIT MEETING
JACOB
Dienstbesprechungen gehörten nicht gerade zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Das einzig Gute daran waren der Kaffee und die leckeren Kekse.
„In diesem Fall muss es aber sein“, wies Melanie mich streng zurecht und öffnete die Tür des Besprechungszimmers.
Augenblicklich stürmten meine übrigen vier Mitarbeiter in den Raum.
Kein Mensch, der den enormen Umsatz von Morgan Inc. kannte, hätte je geglaubt, dass die saftigen Gewinne, die meine Firma einfuhr, mit einem nur sechsköpfigen Team zustande kamen.
Das Motto von Morgan Inc. lautete: Klasse statt Masse. Ich stellte niemanden ein, der nicht für seinen Job brannte, arbeitete nur mit den besten der Besten. Weit überdurchschnittliches Fachwissen gepaart mit Scharfsicht und einem erschreckenden Instinkt für den Markt waren aber nur die eine Seite der Medaille. Noch wichtiger war mir das Menschliche. Wenn das stimmte, wuchs jeder einzelne weit über sich hinaus. Und damit meinte ich keinen Sex in the Office.
Ob es den gab, wusste ich nicht. Ich wollte es mir auch nicht vorstellen, dass Beth mit Jim auf dem Kopierer …
Nein, ich glaubte es nicht, denn dann wäre der längst nur noch ein kleiner Haufen Schrott, den die Putzfrau, die täglich zwei Stunden lang für Sauberkeit und Ordnung bei uns sorgte, längst beseitigt hätte.
Ich schüttelte mich