Das Bild als konstitutives Element dieser hybriden literarischen Kurzgattung ist noch aus einem zweiten Grund relevant für die Wahl gerade dieses Gegenstandes für die vorliegende Studie. Im Zeitalter des sogenannten iconic turn (Boehm 1994)1 ist unser Alltag stärker denn je von Bildern geprägt. Aufgrund ihrer gattungsspezifischen Schrift-Bild-Kombination und ihrer Verbreitung im Internet handelt es sich bei der Poesía Visual somit um eine aktuelle poetische Gattung, die einen starken Bezug zur Erfahrungswelt von jugendlichen Schülerinnen und Schülern vorweist. Mit Bildern zu sprechen und Bilder zu lesen, ist den Jugendlichen von heute nicht fremd. Poemas visuales als Gegenstand des Spanischunterrichts aufzunehmen, bedeutet, Elemente der Bildsprache als Elemente einer poetisch-ästhetischen Sprache im Rahmen des Fremdsprachenunterrichts thematisieren zu können und damit einen entscheidenden Beitrag zur Ausbildung und Förderung einer visual literacy zu leisten. Sie ermöglichen die Sensibilisierung für das ästhetische Lesen von ikonischen (und grafischen) Zeichen, die nach den Vorstellungen Weinrichs an die Notwendigkeit, die „Ästhetik des Alltags“ (Jakobson 1960) in den Unterricht zu holen, anknüpft.
In der vorliegenden Dissertation werden zum ersten Mal die Gattung der Poesía Visual und das visuelle kommunikative Zeichen als (fremd)sprachliches und poetisches Ausdrucksmittel aus didaktischer Perspektive untersucht. Sie ist folgerichtig im Spannungsfeld zwischen Literatur- und Bildwissenschaft einerseits und der fremdsprachlichen Literatur- und Bilddidaktik andererseits angesiedelt. Im Sinne der Gegenstandsorientierung macht sie es sich zunächst zur Aufgabe, die noch weitgehend unerforschte Gattung der Poesía Visual für den Spanischunterricht systematisch zu erschließen. Da es in der Hispanistik bisher nur wenige Untersuchungen zur Poesía Visual gibt, wird sie zunächst als Gegenstand in der spanischsprachigen Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte (TEIL I) beleuchtet. Die daraus resultierenden Erkenntnisse bilden die Voraussetzung für die in TEIL II erfolgende didaktisch-methodische Analyse der Gattung als Gegenstand des Spanischunterrichts.
Was ist überhaupt Poesía Visual? Wie lässt sich diese Gattung begrifflich fassen? Welche formalen Charakteristika weist sie auf? Und welche Typen von poemas visuales gibt es? Dies sind die Leitfragen, denen im ersten Kapitel von Teil I (Poesía Visual: Definition – Theorie – Typologie) nachgegangen wird. Anliegen und gleichermaßen Herausforderung des Kapitels ist es, eine Gattungsanalyse vorzulegen, die für den literaturwissenschaftlichen Forschungsstand in der Hispanistik repräsentativ und für die Spanischdidaktik relevant ist. So werden verschiedene Definitionen herausgearbeitet und verschiedene Typen von poemas visuales vorgestellt und analysiert.
Als Korpus diente eine Auswahl von über 300 poemas visuales, die in der akademischen Version der Dissertation als editorischer Teil in Form einer Anthologie von poemas visuales vorgelegt wurde und das Ziel verfolgte, einen repräsentativen Überblick über die aktuelle Poesía Visual zu geben. Es wurde auf eine möglichst breite Zusammenstellung von Gedichten und, damit verbunden, auf eine vielfältige Auswahl von Dichterinnen und Dichtern geachtet. In Anbetracht der kaum überblickbaren Fülle von veröffentlichten poemas in Zeitschriften und insbesondere im Internet wurde als zentrale Quellen auf bestimmte Einrichtungen, Veröffentlichungsorgane und Internetportale rekurriert. Da nicht alle spanischsprachigen visuell-poetischen Veröffentlichungen berücksichtigt werden konnten, wurde die Poesía Visual auf ihr Vorkommen auf der Iberischen Halbinsel beschränkt, was bedeutet, dass die ausgesuchten Quellen in Spanien verortet sind (im Fall des Internetportals wurde die Postadresse des Webmasters herangezogen). Die geografische Eingrenzung bezieht sich jedoch lediglich auf die Quellen und somit auf gewisse Kern- und Versammlungspunkte der visuell-poetischen Szene. Eine geografische Eingrenzung der Poesía Visual als Gattungsphänomen ist gänzlich unmöglich und im Übrigen auch ganz und gar nicht im Sinne der Poesía Visual, die sich als avantgardistische Kunst und daher in jeglicher Hinsicht als grenzenlose Gattung versteht (siehe Kapitel 1.3). Bei der Auswahl der Quellen, aus denen die poemas visuales geschöpft wurden, lag die höchste Priorität darin, eine authentische und mithin vielseitige Repräsentation der aktuellen Poesía Visual zu erlangen.
Kapitel 2 widmet sich der historischen Entwicklung der Poesía Visual, verfolgt also eine literaturgeschichtliche Fragestellung. In aktuellen deutschsprachigen Forschungsarbeiten ist zu beobachten, dass der Betrachtung der historischen Entwicklung dieser Gattung zunehmend Beachtung geschenkt wird (vgl. v. a. Dencker 2011; Ernst 2012). Dies gilt gleichermaßen für spanische Studien (vgl. v. a. Fernández Serrato 1995; Millán Domínguez 1999). Der Grund für das wachsende historische Forschungsinteresse dürfte nicht zuletzt daran liegen, die Visuelle Poesie überhaupt erst als eigenständige Gattung zu etablieren, ein Prozess, der noch nicht als abgeschlossen gelten kann.
Das wesentliche Ziel von TEIL II besteht indes darin, das fremdsprachendidaktische Potenzial von poemas visuales auszuloten und eine didaktisch-funktionale Typologie für diese Gattung vorzulegen.
Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine multiperspektivische Didaktik, die einen künstlerisch-poetischen Gegenstand zum Thema hat. Weil die Poesía Visual ein dynamischer und facettenreicher Gegenstand ist, wird ein perspektivenreicher und interdisziplinärer Blick auf sie gerichtet, aus dem unterschiedliche Konsequenzen für eine didaktische Operationalisierung dieses Gegenstandes folgen. Der didaktischen Transformation liegen so zwei entscheidende konzeptuelle Vorüberlegungen zugrunde: Zum einen wird ein interdisziplinärer Zugang verfolgt, der literatur-, medien-, sprach- und kulturdidaktische Reflexionen integriert. Der hybride und intermediale Gegenstand Poesía Visual macht eindeutige Genrezuordnungen und Gattungsdefinitionen unmöglich, lässt sie bisweilen sogar absurd erscheinen. Die interdisziplinäre Orientierung erlaubt indes eine perspektivenreiche Annäherung an diesen vielschichtigen Gegenstand.
Außerdem verorten sich die vorgeschlagenen didaktischen Transformationen im Spannungsfeld eines gegenstandsorientierten Unterricht einerseits und eines kompetenzorientierten Unterrichts andererseits (Kapitel 6.1). Gegenstandsorientiert bedeutet zunächst den Text mit seinen gattungsspezifischen Charakteristika und Besonderheiten an unterrichtliche, methodische und lernpsychologische Erfordernisse anzuknüpfen, und nicht a priori den Lerner als Ausgang zu sehen. Kompetenzorientiert ist das Vorgehen, weil es ausgehend von den Spezifika des Gegenstandes danach fragt, welche funktionalen kommunikativen Kompetenzen und welche Text- und Medienkompetenzen damit ausgebildet und gefördert werden können. Folgerichtig werden die didaktischen Potenziale der Poesía Visual nach Kompetenzen und Teilkompetenzen ausdifferenziert.
Im Einzelnen gliedert sich TEIL II der Dissertation folgendermaßen: Nach einer Bestandsaufnahme des aktuellen Forschungsstandes zu visuell-poetischen Texten im Fremdsprachenunterricht (Kapitel 3) werden im Kapitel 4 die Gattungsmerkmale der Poesía Visual im Sinne einer fremdsprachendidaktisch relevanten Sachanalyse herausgefiltert, um ihr (fremdsprachen-)didaktisches Potenzial zu bestimmen und entsprechende didaktisch-methodische Überlegungen anzuschließen. Dabei erweisen sich die Untersuchungen zum Verhältnis von Schrift und Bild im poema visual – als hybride und intermediale Repräsentationsformen – als besonders zielführend. Als Analyseinstrumentarium werden strukturalistisch-mediensemiotische Ansätze gewählt, die das Zusammenspiel von Schrift und Bild im poema visual sowie die für den Sprachunterricht relevanten Konsequenzen begreifbar und beschreibbar machen. Daran schließt sich eine Typologisierung der Poesía Visual an (Kapitel 5), in der drei Typen von poemas visuales unterschieden werden: poemas verbales, poemas verbo-visuales und poemas imagen. Es handelt sich hierbei um eine ganz bewusst und genuin für den Unterricht konzipierte Typologie, die deshalb als didaktisch-funktionale Typologie bezeichnet wird. Sie bildet die Grundlage für die darauffolgende methodisch-didaktische Transformation nach (Teil-)Kompetenzbereichen (Kapitel 6). Es werden drei Kompetenzbereiche für den Umgang mit poemas visuales im Spanischunterricht ausdifferenziert, die aus ihren Gattungsspezifika hervorgehen: die visuell-literarische Kompetenz (Kapitel 6.2), die lexikalische Kompetenz (Kapitel 6.3) und die inter- und transkulturelle Kompetenz (Kapitel 6.4), alle integrieren jeweils Einzel- und Teilkompetenzen. In den Unterkapiteln zu den jeweiligen Kompetenzen werden konkrete Unterrichtsbeispiele vorgestellt.