Dies wirft die Frage auf, welche architektonischen Bedingungen die Mehrsinnigkeit an die Erzählungen stellt. Ines Galling beschreibt, wie die Erzählungen einerseits „dem kinderliterarischen Anspruch der Adaption Rechnung tragen, was sich z.B. im Aufbau von kurzen Spannungsbögen äussert.“ Ausserdem werde in den Texten die kindliche Lebenswelt reflektiert. Andererseits weist sie auch auf eine avancierte Lexik und Erzähltechnik hin, wodurch Reflexions- und Metaangebote etabliert würden, die dem kindlichen Leser unter Umständen verborgen bleiben.16 Maija-Liisa Harju postuliert: „I identify Tove Jansson’s work as crossover literature here, according to three criteria collated from scholarship in the field: diverse address, complexity in form and/or theme, and evidence of diverse readership.“17
Dass eine Erzählung Kinder und Erwachsene gleichermassen fesseln kann, ist keineswegs eine neue Erkenntnis – weder in der Jansson-Forschung noch in der Kinder – und Jugendliteraturforschung allgemein. Neu ist laut Sandra Beckett hingegen das enorme mediale Interesse, welches diesem Phänomen zukommt.18 Trotzdem wurde Jansson jedoch nur im Bereich der Kinderliteratur kanonisiert, ein Schicksal, welches die Crosswriter laut Bettina Kümmerling-Meibauer häufig ereilt.19 Boel Westin sieht das grosse Potenzial für artistischen Ausdruck jedoch eben gerade in der Betrachtung der Muminbücher als Kinderbücher: „[…] just som barnböcker, som ,naiva‘ texter, öppnar muminböckerna speciella konstnärliga möjligheter.“20 „[…] gerade als Kinderbücher, als bewusst ,naive‘ Texte, ermöglichen die Muminbücher spezielle künstlerische Möglichkeiten.“ Diese Überlegung liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde.
Die jüngere Forschung weist ein breit gefächertes Interesse an unterschiedlichsten Aspekten aus. So haben sich rezentere Lektüren mit psychologischen (Müller-Nienstedt 1994) oder philosophischen (Laajarinne 2011) Aspekten ihrer Texte auseinandergesetzt. Der besondere Sprachstil (Helenelund 1985) sowie ihre deutschsprachige Übersetzungsgeschichte (Jendis 2001) waren ebenfalls bereits Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die aktuellsten literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zur Muminserie stammen von Agneta Rehal-Johansson (2006) und Sirke Happonen (2007). Rehal-Johansson definiert zwei Hauptmotive, die Muminfamilie und das Mumintal, und untersucht deren Metamorphosen – einerseits von Muminbuch zu Muminbuch, andererseits interessiert sie sich ebenfalls dafür, wie sich die genannten Motive in den einzelnen Muminbüchern durch die Umarbeitungen verändern. Dabei versteht sie das Muminwerk als einen generativen Prozess. Davon ausgehend beschreibt sie übergreifende Tendenzen bei den beiden Überarbeitungsphasen.21 Gestalterische Veränderungen, die das Buch als Kunstwerk in den Mittelpunkt setzen könnten, lässt sie gänzlich aussen vor. Sie betont jedoch die Komplexität, die sich durch die ständigen Veränderungen ergeben: „Den slutliga muminsviten är ett ovanligt komplext verk, inte bara som barnlitteratur betraktad. Den omfattar alltifrån äventyrs- och utvecklingsromaner för barn, till genreparodier, psykologiska studier, moraliteter och kammarspel i prosaform.“22 „Die Muminreihe ist ein ungewöhnlich komplexes Werk, nicht nur als Kinderliteratur betrachtet. Es umfasst alles von Abenteuer- und Entwicklungsromanen für Kinder bis Genreparodien, psychologische Studien, Moral- und Kammerspiele in Prosa.“ Rehal-Johanssons Ausgangspunkt sind die jüngsten Versionen, diese bezeichnet sie als das Muminwerk. Entsprechend sieht sie die früheren Versionen als Abweichungen davon. Damit kehrt sie die gängige Praxis um. Letztlich, so schlussfolgert sie, entsteht durch die Umarbeitungen eine kohäsive Romanreihe über Kindheit und Familienleben.23
Sirke Happonen interessiert sich für die Entwicklung einer Ästhetik der Bewegung und der Statik in Text und Bild. Sie geht darauf ein, wie Jansson eine spezifische Figurenchoreographie entwickelt, und betont ebenfalls eine Mannigfaltigkeit, was den narrativen Stil und die Illustrationsart betrifft, was wiederum die Einzigartigkeit der einzelnen Muminbücher zementiert. Happonen betrachtet sowohl die Bilderbücher wie auch die Muminbücher und arbeitet teilweise mit handschriftlichem Material, Illustrationsskizzen, und setzt diese in Kontrast zu den gedruckten Illustrationen.
Text-Bild-Beziehungen, Arbeitsprozesse, Künstleridentität und die Muminwelt sowie das Buch als Kunstwerk sind Themen, die immer wieder gestreift werden. Dies macht der Überblick über die Monografien deutlich. Gleichermassen wurde evident, dass diese Themen ein marginales beziehungsweise meist eher beiläufiges Dasein fristen. Aus diesem Grund kann man von einem material turn in der Jansson-Forschung nicht sprechen. Im Unterschied zu den vorgestellten Arbeiten zu Tove Janssons Schaffen werden nachfolgend die oben genannten Aspekte in den Mittelpunkt gestellt, als gleichwertige Koponenten eines facettenreichen Materialitäsbegriffs, wie er vorgängig beschrieben wurde.
1.4. Disposition und Korpuswahl
Die Suche nach einem Materialitätsbewusstsein, welches sich auf einer stofflichen wie auch poetologischen Ebene offenbart, liegt als kleinster gemeinsamer Nenner sämtlichen Analysekapiteln zugrunde. Diesem komplexen Materialitätsbegriff wird im Aufbau der Arbeit Rechnung getragen, indem sich auch die Analysen, in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand, auf verschiedenen Ebenen bewegen: Auf der Ebene des ungedruckten Materials, also den Vorarbeiten unterschiedlichster Art, auf inhaltlicher Ebene und schliesslich auch auf der Ebene des Buchs als Objekt. Letzteres geschieht auf zwei unterschiedliche Arten. Einmal steht die Inszenierung des Buchs als solches im Vordergrund, einmal die Buchgestaltung. Eine derartige Herangehensweise ergibt ein besonders differenziertes Bild der Reflexion der erwähnten Themen. Die theoretische Grundlage der Analysen stützt sich auf ein breites und interdisziplinäres Gerüst an Medien-, Materialitäts- sowie editionsphilologischen Theorien. Wichtige Namen werden bereits in der Disposition genannt. Jedes Kapitel wird jedoch mit konzeptionellen und theoretischen Ausführungen eingeleitet.
Spricht man vom Buch als Artefakt, lenkt dies den Blick unweigerlich auch auf die Genese des Kunstwerks. Das Interesse der Literaturwissenschaft an Handschriften ist keineswegs neu, hat ihren Fokus jedoch verändert beziehungsweise im Sinne des material turns erweitert:
Die Beschäftigung mit der Handschrift hat, auch wenn es um Manuskripte von Autorinnen und Autoren geht, keine Textkonstitution mehr zum Ziel, vielmehr sind es die Materialität und die Ästhetik der Handschrift, die in den Blick der Literaturwissenschaft geraten.1
In diesem Sinne wird im ersten Analysekapitel das ungedruckte Material untersucht. Thomas Wortmann weist darauf hin, dass gerade die critique génétique dazu wichtige Impulse geleistet hat.2 Dies liegt vor allem an ihrem Werkbegriff:
Nur das Werk, so heisst es, könne ästhetische Werte vehikulieren, nicht aber das, was die „critique génétique“ als „avant-texte“ bezeichnet.[…] Dieser Auffassung hält die „critique génétique“ entgegen, dass das Werk nicht den einen, abgeschlossenen, vollkommenen Text meint, sondern den gesamten Verschriftungskomplex, der zwar diesen Text mit einschliesst, aber daneben auch sämtliche Entwurfs- und Arbeitshandschriften integriert, die diesem Text vorausgehen.3
Entsprechend bildet die critique génétique eine wesentliche theoretische Basis dieses Kapitels. Sie etablierte sich in den 1960er-Jahren in Frankreich und geht auf ideologische Vorläufer wie Stéphane Mallarmé und Paul Valéry zurück. Valéry war daran beteiligt, das ästhetische Interesse vom Produkt auf die Produktion zu lenken.4 Als Grundlagentext der critique génétique gilt Edgar Allan Poes Gedicht The Philosophy of Composition: „one of the foundational texts of French genetic criticism“.5 Darin wird ein dezidiert mechanischer Schreibprozess beschrieben. So wie beim Material der Blick vom Produkt auf die Produktion gewendet wird, wird der Künstler als Produzent, als Handwerker gesehen. Diesbezüglich dienen die Texte von Gottfried Benn Probleme der Lyrik (1968) und Walter Benjamin Der Autor als Produzent (1977) als Grundlage.
Die Produktion von Literatur wird in einem weiteren Kapitel beleuchtet, in dem sich der Fokus auf die zahlreich vorhandenen Schreib- und Leseszenen in den Muminbüchern richtet. Die intensive schriftstellerische Tätigkeit vor allem Muminpappans lädt geradezu dazu ein, zu untersuchen, wie das Produzieren und Rezipieren von Literatur sowie unterschiedliche Konzepte von Autorschaft in den Texten selbst verhandelt werden. Denn „Schreibakte sind […] nicht nur Aufzeichnungsakte. Es sind auch Akte, in denen Erinnerungen, Erfahrungen und Wissensbestände produziert, artikuliert und organisiert werden.“6 Bezüglich der Schreibszenen sind die Ausführungen Rüdiger Campes Die Schreibszene.