Für den Schulunterricht haben Wild & Schilcher (2018) ein Modell mit möglichen Erwartungen an die Kompetenzentwicklung formuliert. In das Modell integriert sind verschiedene Teilkompetenzen sowie Erwerbsprozesse.
Kompetenzmodell Wild & Schilcher (2018, 68)
Die Empfehlungen der Bildungsstandards werden exemplarisch anhand des bayerischen Lehrplans für das Gymnasium vorgestellt: In den Lehrplan integriert ist ein so genanntes „Kompetenzstrukturmodell“ (vgl. Abb. 4.5), das die relevanten Kompetenzbereiche, welche auf den Bildungsstandards basieren, integriert. Das Kompetenzstrukturmodell gilt für alle weiterführenden Schularten und führt das Modell des Primarbereichs fort.
Kompetenzstrukturmodell für das Fach Deutsch (Gymnasium) (https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/gymnasium/deutsch)
Wie im vorhergehenden Abschnitt gezeigt wurde, ist Grammatik sowohl in den Bildungsstandards als auch in den Lehrplänen fest verankert. Das Kompetenzstrukturmodell ordnet den Aspekt Sprachgebrauch und Sprache untersuchen und reflektieren sogar so an, dass er die Kompetenzbereiche Sprechen und Zuhören, Lesen – mit Texten und weiteren Medien umgehen und Schreiben umfasst. Diese sind Grundlage für den Lernbereich und haben stützende Funktion. Bereits daraus ist die Relevanz der Grammatik an sich bzw. des schulischen Grammatikunterrichts ersichtlich. Sowohl die Bildungsstandards als auch die Lehrpläne fokussieren die Kenntnis von sprachlichen Strukturen und auch die Fähigkeit der Reflexion darüber.
Schulischer Grammatikunterricht ist gemäß den Bildungsstandards obligatorisch und die in der Überschrift formulierte Frage ist mit „ja“ zu beantworten. Grammatikunterricht ist aber nicht nur erforderlich, weil Bildungsstandards und Lehrpläne ihn integrieren und fordern. Wissen über grammatische Strukturen und die Fähigkeit, über Form und Funktion von diesen zu reflektieren, sind wesentlicher Bestandteil sowohl des Erst- als auch des Zweitspracherwerbs. Denn ein bewusster Umgang mit Sprache ist nur dann möglich, wenn Wissen und Einsicht in ihren Bau vorhanden ist (vgl. hierzu Habermann et al. 2015, 143). Habermann, Diewald & Thurmair (2015, 144) bezeichnen Grammatikwissen als „flexible[s] Instrument zum Ausdruck unserer Gedanken und Absichten“ und als „Perspektivierungs- und Justierungsinstrument“. Wissen über Grammatik und vor allem Sprachreflexionsfähigkeit führen zu Sprachbewusstsein (Language Awareness). Oksaar (2003, 126) definiert Sprachbewusstsein als vielschichtigen
Begriff der konstruktivistischer [sic!] Lerntheorie, er zentriert auf Lernerautonomie und bewusste Verarbeitung des Lernerwissens, das mit Erfahrungswissen eines Individuums zusammenhängt. Zu diesem gehören alle Handlungsweisen, von körperlichen Bewegungen bis zum Sprechen von Sprachen und soziales Handeln.
Sprachbewusstsein äußert sich in der bereits erwähnten Fähigkeit zur Sprachreflexion und führt im Regelfall zur Ausprägung metasprachlicher Fähigkeiten (vgl. Luchtenberg 2010, 111). Vor allem für den Spracherwerb ist Sprachbewusstsein relevant. In der Forschung wird betont, dass der Erstspracherwerb sich vom Zweitspracherwerb alleine schon dadurch unterscheidet, dass beim Erstspracherwerb keinerlei (Sprach-)Basis vorhanden ist, auf die der Lernende zurückgreifen könnte. Beim Zweitspracherwerb hingegen besitzt der Lernende bereits Grundlagen und Fähigkeiten, die ihm beim Erwerb der zweiten oder auch weiteren Sprache von Nutzen sein können: „[A]lles früher Gelernte kann das zukünftige Lernen und Verhalten beeinflussen, positiv oder negativ.“ (Oksaar 2003, 109)
Es geht im Grammatikunterricht aber nicht nur um die Ausbildung von Sprachbewusstsein und metasprachlichen Fähigkeiten. Grammatikwissen ist u.a. wichtig für das Lernen und eigenständige Anwenden von Rechtschreibregeln (vgl. Spiegel 2014, 11–21). Kann zum Beispiel ein Schüler/eine Schülerin Wortstämme sicher identifizieren (z.B. Tod → tödlich, lern- → Lerner), nützt ihm/ihr dieses Wissen auch bei der Rechtschreibung (vgl. Kapitel 09).
Zusammenfassend ist Grammatikunterricht sinnvoll, weil …
sprachliche Verständigung auf der Verwendung (korrekter) grammatischer Strukturen beruht.
Sprachbewusstsein nur so gefördert werden kann.
der Schüler/die Schülerin Wissen über den Bau und die Funktion von grammatischen Strukturen haben muss.
metasprachliches Wissen dadurch hervorgerufen wird.
Grammatikwissen die Basis ist für weitere (Lern)Bereiche (zum Beispiel für Rechtschreibung).
Sprachvergleiche angestellt werden können.
der Geltungsbereich für so genannte Normen kritischer bewertet und hinterfragt werden kann.
Wie bereits in Kapitel 03 erwähnt wird, ist es wichtig, dass eine Lehrkraft, die Grammatikunterricht leitet, über fundiertes Grammatikwissen verfügt. Man kann nur einen Sachverhalt kompetent vermitteln, den man verstanden hat und über den man auch weitreichende Kenntnisse hat.
4.4 Konzeptionen des Grammatikunterrichts und der -vermittlung
Die Konzeptionen oder auch Modelle des Grammatikunterrichts und der -vermittlung können in drei dichotomische Begriffspaare/Dimensionen unterteilt werden:
Konzepte des Grammatikunterrichts
In diesen können die Konzeptionen des Grammatikunterrichts verortet werden. Im Fokus stehen jeweils Handlungsabläufe des Kategorisierens (zum Beispiel von Funktionen) und Konkretisierens (vgl. Bartnitzky 2015, 207), wozu Sprache distanziert, deautomatisiert und dekontextualisiert betrachtet werden muss.
Dekontextualisierung bezeichnet den Sachverhalt, dass das zu untersuchende sprachliche Material aus dem Kontext gelöst und sozusagen kontextfrei analysiert wird. Bredel betrachtet dies als notwendige „Bedingung“ für die Sprachbetrachtung (Bredel 2013, 24). Unter Deautomatisierung versteht Bredel (2013, 24) den Sachverhalt, dass automatische Abläufe deaktiviert werden, um das Interesse auf „andere kognitive, sprachbetrachtungsrelevante Prozesse“ lenken zu können. Metasprachlich bezeichnet die Fähigkeit eines Menschen, über Sprache zu sprechen und auch zu reflektieren.
4.4.1 Formal versus funktional
Die formale Grammatik ist als „formbezogene Sprachanalyse“ aufzufassen, deren Augenmerk auf der Vermittlung von „grammatischen Kategorien“ liegt (Eisenberg & Menzel 1995, 14), losgelöst von einer konkreten Anwendung. Beispielsweise werden die Tempora Präteritum und Perfekt eingeführt, ohne darauf zu verweisen, dass, vereinfacht gesagt, das Präteritum (Imperfekt) in erster Linie das Tempus der Schriftlichkeit ist, wohingegen das Perfekt eher in mündlichen Kontexten Verwendung findet. Diese Variante des Unterrichtens ist vielleicht noch aus dem traditionellen Grammatikunterricht bekannt, wo eine deduktive und präskriptive Vermittlung des Stoffes im Zentrum stand (vgl. Bredel 2013, 227).
Bei einem funktionalen Grammatikunterricht hingegen liegt der Fokus darauf, „semantische, textuelle und kommunikative Kategorien zu den grammatischen in Beziehung [zu] setzen“ (Eisenberg & Menzel 1995, 15). Intendiert sind dabei unter anderem folgende Ziele (vgl. Bredel