Stephanie Catani
Geschichte im Text
Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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Umschlagabbildung: © Jodi Harvey-Brown, Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Die vorliegende Studie wurde von der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Juli 2015 als schriftliche Habilitationsleistung angenommen. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet.
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ISBN: 978-3-7720-0009-6
Für Nils, Benedikt & Juna
1 Geschichte und Gegenwartsliteratur: Eine Einleitung
1995 hält der österreichische Autor Robert Menasse die Eröffnungsrede zur Frankfurter Buchmesse und verkündet darin programmatisch: »Vielleicht war »Geschichte« der größte historische Irrtum der Menschheit.«1 Menasse beruft sich auf einen Geschichtsbegriff, der am Ende des 20. Jahrhunderts seine Sinnhaftigkeit verloren hat und als vermeintlich falsch verstandenes Modell eines teleologischen Prozesses verantwortlich zeichnet für die »Abfolge von Greuel«, die sich hinter dem Katastrophenjahrhundert verbergen:
»Geschichte« ist so oder so ein sehr zweifelhaftes Konstrukt, die Annahme, daß sie einen immanenten Sinn und ein Ziel hat, ist reiner Glaube, und daß es Techniken gibt, sinnvoll in sie einzugreifen, das ist schon religiöser Irrsinn. Alle großen Menschheitsverbrechen wurden und werden immer von geschichtsbewußten Menschen begangen, immer mit dem Gefühl, »im Auftrag der Geschichte« zu handeln, und dieses Gefühl macht skrupellos. Jede »Lehre aus der Geschichte« ist dürftig und jedes »Geschichtsziel« ist so spekulativ, daß es abenteuerlich ist, damit den Eingriff in eine lebendige Wirklichkeit zu legitimieren. Kein sogenanntes »geschichtsbewußtes Handeln« kann glaubhaft voraussetzen, daß es so logisch funktioniert wie die einfache Abfolge von Saat und Ernte. Wenn es einen ›Misthaufen der Geschichte‹ gibt, dann ist das, was am dringendsten auf diesen Misthaufen gehört, unser Begriff von Geschichte selbst.2
Pointiert fasst Menasse hier die Umstände zusammen, die den Geschichtsbegriff an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu einem problematischen machen. Zum einen sind spätestens mit der durch den linguistic turn fächerübergreifend postulierten Erkenntnis, dass eine der Sprache vorgängige Geschichte nur schwer zu haben ist, Geschichte und Vergangenheit unsicher geworden und Historiografie und Literatur, Fakten und Fiktion im Zeichen der Narration in ein neues Konkurrenzverhältnis getreten. Zum anderen warnt Menasse gerade angesichts dieses »zweifelhaften Konstrukts«, das sich hinter der Geschichte verberge, vor ihrer Instrumentalisierung: Als Handlungsrichtlinie könne die Geschichte am Ende eines Jahrhunderts, das von Verbrechen im Namen der Geschichte geprägt sei, keineswegs mehr funktionieren, allenfalls als Versuch, »dem Sinnlosen Sinn zu geben«3.
Menasses Plädoyer für eine Loslösung vom Konzept ›Geschichte‹ mithilfe eines auf die Gegenwart ausgerichteten Denkens und Handelns ist keineswegs als bloße Polemik oder gar als Angriff auf das akademische Feld der Historik zu verstehen, sondern führt geradewegs zu deren zentralen Einsichten: Einsichten, wie sie etwa Jörn Rüsen, einer der profiliertesten Geschichtstheoretiker der Gegenwart, in seinem programmatischen Essay Was ist Geschichte? formuliert:
Allerdings stellen die Schreckens- und Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts eine neue Herausforderung an das historische Denken und an einen zukunftsfähigen Geschichtsbegriff: Sie lassen sich nur schwer mit den bisherigen Sinnkonzepten des Historischen vereinbaren und verlangen neue Interpretations- und Darstellungsstrategien. Die Frage nach dem Menschen und seiner ›Natur‹ als Geschichte muß radikal neu gestellt und Sinnlosigkeit selber als Element eines sinnvollen Geschichtskonzepts berücksichtigt werden. Das kann und sollte zu neuen Praktiken des historischen Denkens und der Repräsentation der Vergangenheit führen […].4
Auch Rüsens Historiker-Kollege Lucian Hölscher verabschiedet sich von einer »durchgängigen historischen Kontinuität« der Geschichte und sieht die Zukunft seines Faches dadurch bestimmt, sich »dieser neuen Bruchhaftigkeit« der Geschichte zu stellen.5 Seine 2009 veröffentlichte Aufsatzsammlung mit dem bezeichnenden Titel Semantik der Leere beschließt er mit einem Beitrag zur Hermeneutik des Nichtverstehens, der an Rüsens Plädoyer für die ›Sinnlosigkeit‹ als Element eines gegenwartstauglichen Geschichtskonzepts anknüpft:
Sie [die Geschichtswissenschaft, S.C.] muss sich der Einsicht stellen, dass sich die Ordnungen der Erfahrung in keinem denkbaren epistemologischen Raum mehr zu einem homogenen Ganzen zusammenfügen lassen, dass sie sich überlagern, bruchhaft und einander wechselseitig ausschließend aufeinanderstoßen. Die Geschichtswissenschaft muss sich daher den epistemologischen Brüchen und in ihnen insbesondere den Prozessen des Nichtverstehens als historischen Tatbeständen zuwenden, d.h. eine Hermeneutik des Nichtverstehens entwickeln.6
Rüsen wie Hölscher belassen es keineswegs bei der resignierten Einsicht in ein aus epistemologischer Sicht fragwürdig gewordenes Geschichtsmodell: Vielmehr repräsentieren sie stellvertretend, wie im ersten Teil dieser Untersuchung ausführlich dargestellt wird, das Bemühen der aktuellen geschichtstheoretischen Forschung, an einer Orientierungsfunktion historischen Wissens festzuhalten, ohne die Problematik einer aufgrund konstruktivistischer wie poststrukturalistischer Befunde unsicher gewordenen Geschichte zu verschweigen.
Auch der Autor Robert Menasse beendet seine Rede in Frankfurt nicht, ohne einen Ausweg anzudeuten – allerdings einen, den er ausschließlich im Feld der literarischen Produktion verortet:
Was können wir tun? Was Sie tun können, weiß ich nicht. Sie tun, was Sie können. Was wir Autoren tun können, ist schreiben. Unser Schreiben ist ein lautes Singen in finsteren Wäldern. Dieses Singen soll uns die Angst nehmen, nicht Ihnen. Es sind Poetische Wälder – Gefallen findet, wer sie gefällt.7
Tatsächlich, darin liegt der zentrale Ausgangspunkt der vorliegenden Studie, sind es jene ›poetischen Wälder‹, die den medialen Schauplatz vergegenwärtigen, auf dem die Konkurrenz von Fakten und Fiktionen im Zeichen historischer Narration sowie die von Hölscher skizzierte »Bruchhaftigkeit der Geschichte« verhandelt werden: vorrangig in literarischen Texten, die sich auf vermeintlich historische Fakten zu berufen scheinen.
Das Feld historisch-fiktionaler Literatur ist dabei nicht einfach bestellt: Offenbar machen sich Texte, die über Geschichte schreiben, a priori verdächtig. Dort, wo sie nicht gleich mit dem Eskapismus-Vorwurf konfrontiert werden, wird ihnen die ästhetische Qualität mit Blick auf die hinter historischem Gewand und historischer Kulisse lauernde Kitsch-Gefahr gerne abgesprochen. Dass der Graben zwischen sogenannter E- und U-Literatur auch gegenwärtig ein tiefer ist, lässt sich selten so gut beobachten wie am Beispiel des historischen Romans.
In diesem Kontext repräsentativ ist noch immer Lion Feuchtwangers unmittelbar vor