Herbert Huesmann
Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots
Eine literarische Suchbewegung
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-8233-0034-4
Für M.J.A.
Die vorliegende Studie Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots – Eine literarische Suchbewegung ist die leicht überarbeitete Fassung einer Dissertation, die ich im November 2015 beim Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück eingereicht habe. Die Disputation hat am 8. Juli 2016 stattgefunden.
Dass es mir als Pensionär ermöglicht wurde, ein Forschungsprojekt im Rahmen einer Promotion durchzuführen, verdanke ich in erster Linie der Bereitschaft von Frau Prof. Dr. Andrea Grewe, mich trotz ihrer vielfältigen Verpflichtungen als Doktoranden über einen Zeitraum von annähernd fünf Jahren zu betreuen. Von ihrer immensen Erfahrung, ihren berechtigten Einsprüchen und konstruktiven Anregungen habe ich in allen Phasen der Arbeit in hohem Maße profitiert. Aufrichtigen Dank schulde ich auch Frau Prof. Dr. Susanne Schlünder für die Übernahme des Korreferats und hilfreiche Empfehlungen, die in die Schlussfassung des Textes eingegangen sind.
Sehr gerne richte ich meinen Dank an Herrn Prof. Dr. Asholt für seine Bereitschaft, meine Dissertation in die edition lendemains aufzunehmen, und Frau Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag für ihre kompetente lektoratsmäßige Betreuung des Projekts.
Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Familie, die meine zeitintensive Beschäftigung mit dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots mit großer Geduld und liebevoller Ermunterung begleitet hat. Danken möchte ich vor allem Veronika und Frank, die mir immer dann geholfen haben, wenn mir meine Unerfahrenheit in der digitalen Bearbeitung großer Textmengen im Wege stand.
(H.H.)
Einleitung
Margarete Zimmermann markiert im Titel ihres Artikels „Trop de mémoire – trop de silence. Schweigen und Vergessen im Werk von Cécile Wajsbrot“ jene „Pole“, „[…] zwischen denen sich das Werk der Cécile Wajsbrot bewegt“1. Tatsächlich stellen die Lasten der Erinnerung und die Unfähigkeit bzw. die mangelnde Bereitschaft, über die eigene Vergangenheit oder zurückliegende Kapitel der „großen“ Geschichte zu sprechen, ebenso wichtige Themen in den Romanen und Erzählungen Wajsbrots dar wie die Versuche der handelnden Figuren, verloren geglaubte Spuren, nicht zuletzt auch das rätselhaft Geheimnisvolle der persönlichen Herkunft aufzudecken, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden und Brücken in die Zukunft zu schlagen. Dabei sind, wie das Beispiel der Ich-Erzählerin in dem 2004 erschienenen Roman Le Tour du lac zeigt, die Bemühung um ein Gespräch mit einem – in diesem Fall fremden – Gegenüber und die Bewegung im Raum, und handle es sich nur um das sich sonntäglich wie ein Ritual wiederholende Umkreisen des Sees, immer auch „[…] Ausdruck der Suche nach einem ‚Ort‘ – als Individuum, als Schriftstellerin – in der Gegenwart und in der Zukunft“2. Dass Orte, Räume und die Suchbewegung zwischen den Orten, im Raum der Geschichte, für das Erzählwerk Cécile Wajsbrots von großer Wichtigkeit sind, betont Margarete Zimmermann auch noch an anderer Stelle, allerdings ohne diesen Aspekt zu vertiefen.3 Dies gilt für die ganze bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autorin, sieht man einmal davon ab, dass Ottmar Ette sie bereits 2005 in den Kreis jener Schriftstellerinnen und Schriftsteller eingeordnet hat, deren Schaffen er sehr treffend als ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz4 charakterisiert hat. Diese geniale, aber gleichwohl globale „Verortung“ des Erzählwerks Cécile Wajsbrots vermag indes nicht das Desiderat einer Studie aufzuheben, die im Detail die Funktion und Bedeutung, die Raum und Bewegung in ihren Romanen und erzählerischen Kurztexten zukommt, analysiert und differenziert darstellt. Der Differenzierungsanspruch betrifft zu allererst den Begriff „Ort“, der im Hinblick auf das Erzählwerk Cécile Wajsbrots immer auch auf „innere Orte“, d.h. Standpunkte, Sichtweisen und Empfindungen zu beziehen ist.
Bei der Schwerpunktsetzung der vorliegenden Arbeit lässt sich der Verfasser nicht in erster Linie von jener Debatte über „Cultural Turns“ leiten, in deren Verlauf der Raum eine Aufwertung erfahren hat, die keineswegs nur die Literaturwissenschaften, sondern alle unter dem Dach der Kulturwissenschaften vereinten Disziplinen erfasst hat.5 Primär entscheidend ist vielmehr, dass die Suchbewegungen der handelnden Figuren im Erzählwerk Cécile Wajsbrots, die vielen ihrer Romane bzw. Erzählungen raum- bzw. ortsbezogene Titel gegeben hat, von besonderer Bedeutung sind. Dies drängt sich als Ergebnis einer ersten Lektüre der Texte geradezu auf. Zudem hat Cécile Wajsbrot inzwischen mehrfach, besonders deutlich in einem Gespräch mit Dominique Dussidour im Oktober 2005, erklärt, welche Funktion der Raum für ihr Schreiben hat:
Alors comment écrire, comment dire ce qu’on a à dire? En passant par des biais qui ne peuvent être ni tout à fait des personnages, ni tout à fait une action romanesque, ni un simple constat des choses. D’abord, il me semble que dans mes livres, cela passe par un ancrage, qu’il y a, à chaque fois ou presque, un lieu – au sens large du terme. La radio dans La Trahison, le métro dans Nation par Barbès, Berlin dans Caspar Friedrich Strasse, Kielce et la Pologne dans Mémorial, le bois de Boulogne dans Le Tour du lac. En même temps, ce lieu n’est pas donné, il est gagné (ou perdu), il est parcouru, constitué ou reconstitué. L’ancrage dans le lieu permet un ancrage dans le temps, car le lieu – souvent une ville – est imprégné de ce qui s’y est produit à différentes périodes et ce sont ces strates temporelles qui lui donnent existence. Les figures sans nom de mes romans les traversent et sont à leur tour traversées par ce qui s’y passe, ainsi y a-t-il une sorte d’échange entre le dedans et le dehors, une sorte de mécanique des fluides, un phénomène de vases communicants.6
Mit dem Bild des „[…] échange entre le dedans et le dehors […]“ bringt Cécile Wajsbrot zum Ausdruck, dass einerseits Orte und Räume durch geschichtliche Entwicklungen geprägt sind, andererseits die Figuren, die sie „durchqueren“, in ihrem Denken und Handeln durch die sich ebendort abspielenden Ereignisse beeinflusst werden. Die Metapher der kommunizierenden Röhren hebt somit die Interpendenz zwischen Raum, Zeit und handelnden Figuren als konstituierenden Elementen der erzählten Welt hervor. Diese Faktoren sind in einem Erzähltext wie die Fäden eines Gewebes, einer „texture“, miteinander verknüpft. Die Ankermetapher weist dem Ort/Raum gleichwohl eine besondere Bedeutung zu. So wie ein Anker immer nur das temporäre Verbleiben eines Schiffes an einem bestimmten Platz sichert, bevor es seine Fahrt fortsetzt, so hat man sich den Raum nicht als etwas unumstößlich Gegebenes, sondern eher, im Sinne eines dynamischen Prozesses, als ein stets neu zu gewinnendes und zu entdeckendes, aber zugleich als ein gefährdetes Gut vorzustellen. Die damit implizierte „Unbestimmtheit“ des Raumbegriffs bedeutet konsequenterweise auch, dass die Vorstellung von „Raum“ die Idee der „Bewegung“ geradezu voraussetzt, die beiden Begriffe also in einem komplementären Verhältnis stehen. Die Bedeutung und die Funktion des Raums werden dadurch in einen Bezugsrahmen eingeordnet, der auch im Titel der oben zitierten Studie von Ottmar Ette implizit zum Ausdruck kommt. Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots kann daher, ungeachtet seiner thematischen Differenziertheit, in seiner Gesamtheit als eine literarische Suchbewegung bezeichnet werden.7
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit präsentiert in Kapitel A 1 Informationen über die Biographie Cécile Wajsbrots sowie über ihre literarhistorischen und literaturtheoretischen Äußerungen zum Roman als literarischer Gattung