SozialkonstruktivismusKonstruktivismus in der Geschlechterforschung
In dieser Tradition geht man davon aus, dass Kinder durch eine historisch vorgeprägte Sicht auf soziale Typen indirekt ihre SelbstwahrnehmungSelbstwahrnehmung lernen. Das heißt nicht, dass man sie als eine „black box“ sieht, auf die das gesellschaftlich vorherrschende Genderbild einfach projiziert wird. Prägungen gehen aber entlang gängiger Vorstellungen von weiblichem und männlichem Verhalten vonstatten, die die Kinder in ihren jeweiligen Lebenswelten verstärken oder abmildern können. Im Zusammenhang mit der Interpretation ihrer Äußerungen und ihres Verhaltens bilden sie entsprechende Gefühle auch im Bezug auf sich selbst aus.
2.2 Was heißt doing gender?
In den Sozial- und Kommunikationswissenschaften stellt sich bei allen sozialen Kategorien, denen im Alltag Relevanz zugeschrieben wird, die Frage, wie dies geschieht (Kotthoff 2002a). In keiner (bekannten) Kultur bleibt es bezüglich folgenschwerer sozialer Kategorien grundsätzlich nur beim Konstatiereren physischer oder psychologischer Differenzen. Auch der sozialen Kategorie Alter liegt beispielsweise zunächst ein physiologischer Prozess zu Grunde. Darüber hinaus wird gesellschaftlich relevant gesetzt, dass beispielsweise ein Kind ab einem gewissen Alter laufen lernt; Alter ist mit Verhaltensstandards verbunden; Jugendliche markieren den Übergang von der Kindheit zum Jugendalter aktiv, indem sie sich anders kleiden und anderen Aktivitäten nachgehen (auch gehört Rauchen oft als semiotische Anzeige des Verlassens des Kind-Status dazu; Eckert 2014). In konservativ-islamischen Milieus soll das geschlechtsreife Mädchen sein Haar verbergen. Mit dem Erreichen der Menstruation und Gebärfähigkeit wird nun über ein Kopftuch in der Öffentlichkeit die Relevanz von Alter, Religion und Geschlecht gleichzeitig semiotisch demonstriert. In vielen Gesellschaften leistet beispielsweise das Auftragen von Make up die gekoppelte Anzeige von Alter und Weiblichkeit. Genauso wie es eine große Bandbreite an Möglichkeiten gibt, die Kategorie Alter über den Körper hinaus oder gegen ihn gerichtet (das Ziel der Kosmetikindustrie) semiotisch kundzutun, bietet auch das soziale und kulturelle Geschlecht (Gender), die Möglichkeit, in graduell abgestufter Relevanz inszeniert zu werden.
2.2.1 Der EthnomethodologeEthnomethodologie Harald Garfinkel und seine Agnes-Studie
In den Sozialwissenschaften arbeiten wir zur Erfassung der Relevantsetzung mit dem Konzept des doing gender, das auf Harold Garfinkels „Agnes-Studie“ (1967) fußt. Agnes (Pseudonym) wurde 1958 an das Medical Center der University of California Los Angeles überwiesen. Sie besaß weder Eierstöcke noch Gebärmutter. Die männlichen GenitalienGenitalien, die für Agnes einen grausamen Schlag des Schicksals darstellten, wurden ihr entfernt. Um die Operation herum wurde das Lernen weiblicher Verhaltensweisen zentral. Agnes war fortwährend damit beschäftigt, sich als Frau zu präsentieren und dies zu routinisieren. Diesen Vorgang nennt Garfinkel (1967, 118) „passing“. Ihr Geschlecht verlangt nun eine Ausübung, die Kinder meist ohne hohe Bewusstheit allmählich erwerben. Diese Ausübung („doing“) von Femininität verlangt beispielsweise als weiblich geltende Kleidungs- und Haarstile und Arbeit an der Stimme (Kap. 3). „Doing“ (tun) erfasst zunächst die Alltagsbeobachtung, dass Geschlecht einer Inszenierung bedarf, wenn es bemerkbar sein und Konsequenzen haben soll, die für alle interpretierbar sind.
Der Soziologe Garfinkel verfolgte, wie sich die TransfrauTransfrauen Agnes nach ihrer Operation (vom Mann zur Frau) auf allen Ebenen des Verhaltens in das kulturelle Frau-Sein im Kalifornien der sechziger Jahre einübte, darunter auch das Gesprächsverhalten. Zunächst einmal hatte Agnes sich nach der Entscheidung, als Frau leben zu wollen und nach Operationen, mittels Kleidungs- und Körpergestaltungssemiotik als erkennbare Frau umstilisiert. Auf dieser Ebene liegen auch heute noch die auffälligsten GenderstilisierungenStilisierung (Selbst- und Fremd-S.).
Auf dem Terrain des Gesprächsverhaltens musste und wollte Agnes z.B. lernen, sich in argumentativen Gesprächen nicht durchzusetzen, sondern stattdessen einzulenken, was sie und ihr Umfeld als typisch für Frauen erkannt hatte. Vor allem ihr Freund lehrte sie, nicht zu insistieren und nicht so stark ihre Meinung zu verteidigen, weil das unweiblich sei. Ihr soziales Umfeld fungierte dabei als Ratgeber für das Aufführen von Frau-Sein. Sie musste und wollte es lernen, sich von Männern bestimmte Höflichkeiten angedeihen zu lassen und andere selbst zu praktizieren. Agnes hörte auf, Frauen zur Zigarette Feuer zu geben und hielt stattdessen selbst einem Mann sichtbar ihre der Anzündung harrende Zigarette hin, damit dieser sein Feuerzeug zücke. Agnes verwendete viele Euphemismen, weil sie das als frauentypisches Sprechen empfand. Garfinkel diskutierte Verhaltensweisen, die damals noch gemeinhin als natürlich galten, als in kultureller Praxis wechselseitig erzeugtes „accomplishment“ (Leistung). Die Komponenten der Genderpraxis konnten in Agnes’ Umfeld gut in ihrer Machart und Bedeutung erkannt werden.
Der Gedanke der interaktiven Wechselseitigkeit ist für die gesamte EthnomethodologieEthnomethodologie sehr bedeutungsvoll. Ayaß (2007) verdeutlicht, dass auch Garfinkel selbst am doing gender rund um Agnes beteiligt war, weil auch er sie genderspezifisch behandelte (z.B. durch spezifische Höflichkeiten als Frau bestätigte und sich selbst gleichzeitig als Mann).
Ayaß (2008, 152) widmet der Rezeptionsgeschichte dieser klassischen Studie, die diesseits- und jenseits des Atlantiks lange ignoriert wurde, einige Ausführungen. Mit Hirschauer (1993b, 58) konstatiert Ayaß, dass „ein Gutteil feministischer Grundlagenforschung außerhalb der Frauenforschung stattfand.“ Butlers theoretisches Buch „Gender Trouble“ lese sich wie ein spätes Echo auf Garfinkels und Goffmans Studien. Allerdings nehme Butler gar nicht zur Kenntnis, dass ihre wesentlichen Thesen von der sozialen Konstruiertheit des Geschlechts bereits bei Garfinkel zu finden seien, der solche Prozesse auch empirisch rekonstruiert habe. Wir möchten diese bedenkliche wissenschaftsgeschichtliche Unterschlagung, der sich leider auch in der Folge Forscher/innen blind angeschlossen haben (z.B. betreibt Villa (2003) in ihrer Einführung in Butlers Werk keine Richtigstellung bezüglich der Entwicklung konstruktivistischen Denkens über Gender), nicht fortsetzen und kommen auf andere Kritikpunkte an dem einflussreichen Buch „Gender Trouble“ später zurück.
Hirschauer (1993a) hat etwa dreißig Jahre später mittels einer ethnografischen Studie darüber, wie die Transition sowohl von Frau zu Mann wie von Mann zu Frau vor sich geht, sehr genau beschrieben, was medizinische und psychologische ExpertInnen leisten, um diese durch ihr professionelles Engagement eine soziale Wirklichkeit werden zu lassen. Dabei belegt er mit einer Fülle ethnografischer Daten die allgemeine These, „daß die medizinische Konstruktion der Transsexualität ein immanenter Bestandteil der zeitgenössischen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit ist“ (ebd., 9). Gerade weil die Trennung der Geschlechter im Alltag immer weniger gelebt werde, erweise sich die „GeschlechtsidentitätGeschlechtsidentität“ als „letzte Bastion des Glaubens an ein wahres Geschlecht“ (1993, 115). Dieser Glaube findet sich nicht nur bei Stimmexperten und Kosmetikerinnen, die beim passing zu Werke gehen.
2.2.2 Goffmans Sicht auf Arrangements der Geschlechter1
Nur kurz nach Erscheinen von Garfinkels Studie hat Erving Goffman die Betrachtungsweise von Geschlecht innerhalb der Soziologie und den Kommunikationswissenschaften weiter revolutioniert. Er kritisiert im „Arrangement der Geschlechter“ (1977) die Sozialwissenschaften, welche bis dato die Prozesse der fortlaufenden Geschlechterkonstruktion kaum erforscht hätten. Für viele Wissenschaftler/innen war die Bedeutung des Faktors Geschlecht ein Phänomen, welches im Rahmen von Rolle, Privileg und Benachteilung erfassbar schien. Mit der Untersuchung von „Rollenverhalten“ seien sie, so Goffman, der immensen