Wir wünschen Regina Ammicht Quinn alles erdenklich Beste zum Geburtstag, ihr und allen Leser_innen viele Anregungen bei der Lektüre. Vor allem aber übermitteln wir der Jubilarin unseren herzlichsten Dank für unermüdliches Engagement und damit verbundenen grandiosem wissenschaftlichen Erfolg, für wissenschaftliche sowie politische Inspiration und – ganz zuletzt und ganz besonders – akademische und persönliche Freundschaft. Ad multos annos!
Thomas Potthast und Vera Hemleben
im Namen der Herausgeber_innen
und aller Mitglieder des Tübinger Ethikzentrums
Grundfragen
Brauchen Ethiker und Ethikerinnen eine moralische Bildung?1
Dietmar Mieth
Vermutlich würden viele, die Ethik nicht professionell betreiben, spontan diese Frage mit „Ja“ beantworten. Es ist aber auch zu vermuten, dass professionelle Ethiker und Ethikerinnen einer Distinktion zwischen moralischer Bildung, die vorteilhaft sein könne, aber nicht zum ethischen Erkennen notwendig sei, bestehen. Denn es könne doch nicht um persönliche Vorbildlichkeit als Legitimation der richtigen Erkenntnisse und Urteile gehen. Sonst wäre ja der gute Ruf, die moralische Vorbildlichkeit, wichtiger als die Argumentation des Experten. Der Experte, die Expertin sollten zwar „periti“ sein, aber dies doch eher durch die wiederholte Aneignung schlüssiger Argumentationsketten. Wir messen ja auch einen Arzt nicht daran, welche Krankheiten er selbst mit den geeigneten Mitteln überstanden hat. Oder daran, ob er selber raucht, wenn er vom Rauchen abrät. Der Experte, die Expertin sind professionell aufgestellte „Wegweiser“, die von sich weg auf den Weg weisen.
Andererseits: Vielleicht ist die Frage nach moralischer Bildung des Ethik-Akteurs bzw. der -Akteurin ähnlich wie die Betrachtung des unterschiedlichen Könnens bzw. der Kreativität bei Künstlern und Kunsttheoretikern? Vielleicht unterscheidet sich das, was Kant „Urteilskraft“ nennt, von dem, was er „vernünftige Begründung“ nennt. Hannah Ahrendt hat sich darauf bezogen. Vielleicht ist ein Moralphilosoph wie Paul Ricoeur (1995) wegen dieses Unterschiedes anders aufgestellt als die Vertreter der rein begriffsanalytischen Methoden in der Philosophischen Ethik?2 Kann der eingangs anvisierte Unterschied zwischen einer engagierten, aber nicht-professionellen Orientierung in der Moral einerseits und dem bestrittenen Anspruch auf Vorbildlichkeit in der professionellen Ethik andererseits auf sich beruhen? Das wäre dann der Unterschied zwischen gelebter moralischer Orientierung, die sich gelegentlich als Empörung einmischt, und emotionsloser Rationalität im wissenschaftlichen Ethik-Diskurs.
Oder beunruhigt diese Unterscheidung nicht gerade dadurch, dass sie persönliche Moral und professionelle Ethik auseinanderhält? Um uns damit auseinanderzusetzen, müssen wir zunächst fragen, was moralische Bildung überhaupt ist und was wir von ihr erwarten können. „Bildung“ ist ein Begriff, der auf eine deutsche Insel zu führen scheint, weil er in umliegenden Sprachgewässern (englisch, französisch) nicht vorkommt, sondern dort unter „education“ fällt, ein Wort, dass die historischen Eigenheiten des Wortes „Bildung“ (religiöse, humanistische und klassische Eigenheiten) nicht so ohne Weiteres in sich aufnehmen kann. Schauen wir also zuerst (1) auf das, was „Bildung“ im Erbe trägt und was Bildung als die Herausbildung moralischer Erfahrenheit beinhaltet. Dann (2) sehen wir uns an, was als elementarer Aufbau moralischer Bildung betrachtet und bewusst inszeniert werden kann. Dann fragen wir uns (3), was bestimmte Übungen und Habitualisierungen für die professionelle Arbeit an der Ethik bringen könnten.
Das Wort „Bildung“ wurde von Meister Eckhart (1260–1328) für die deutsche Begriffssprache geprägt (siehe Mieth 2015: 55–82). Die Sprache der „Bildung“ war zunächst eine zutiefst religiöse Sprache. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis wir in einer säkularisierten Welt diesen Klang nicht mehr hören, wenn wir „Bildung“ sagen. Wenn wir im Zeitalter Goethes oder mit dem Universitätsreformer Wilhelm von Humboldt von „Bildung“ sprechen, dann haben wir das Ideal eines vielseitig geformten und mit breiter Kulturkompetenz ausgestatteten Menschen. Noch in meiner Studienzeit war es für Bildungshungrige selbstverständlich, dass man Lehrveranstaltungen nicht nur fachbezogen besuchte, sondern um sich ganz allgemein zu bilden. „Bildung“ erschien hier als anzustrebendes Persönlichkeitsmerkmal, für das man das schulische Reifezeugnis erhielt und darauf das akademische Examen aufbaute. „Akademisch“ erinnerte hier, zumal alle künftigen Lehrer ein philosophisches Examen brauchten, noch an die Akademie Platons. Von diesem Bildungsideal haben sich Schule und Hochschule heute entfernt. Das Wort „Bildung“ gibt es mit dieser Bedeutung und mit dieser Tradition weiterhin nur in der deutschen Sprache. „Education“ im Englischen und Französischen geben das mit „Bildung“ Gemeinte nicht wieder, sondern in diesem Wort tendiert alles zur Ausbildung von Fachlichkeit und zum Erwerb von Kompetenzen. Das Wort „Bildung“ hat zwar im Deutschen weiterhin einen Beiklang, der über „Ausbildung“ und „Erziehung“ hinaus zielt, aber die Realität, in der wirtschaftliche Sachzwänge und Job-Bedürfnisse Vorrang haben, macht aus der „Bildung“ immer mehr Erlernen von Wissen und Kompetenzen und führt den Gebrauch des Wortes „Bildung“ immer mehr an die theoretische und praktische Ausbildung heran. In diesem Sinne geschieht auch Bildung m Universitätsfach „Ethik“, auch wenn dessen Zuordnung zu den Fakultäten offen ist. (Das sehen Schmalspur-Philosophen allerdings nicht ein.) M.E. hat Bildung als Prozess vor allem mit der Herausbildung von Erfahrenheit zu tun.
1. Moralische Erfahrungen
Bildung ist, um es kurz zu pointieren, der Weg von der Erfahrung zur Erfahrenheit. Erfahrung darf man damit nicht im Sinne der Sammlung von Erlebnissen verstehen. Das englische „experience“ ist in diesem Sinne meist missdeutbar („make the experience“). Erfahrung in dem hier gemeinten Sinne kommt zustande, indem ein (erlebtes) Ereignis erst dadurch zur Erfahrung wird, dass man 1. es hervorhebt, indem man es erinnert, 2. es sich erzählt und ihm damit eine weiter erzählbare Form gibt, 3. die Erzählung für sich selbst und meist auch für andere wiederholt, 4. Reaktionen auf die Erzählung einfügt oder abwehrt, 5. dieser Erfahrung eine moralische Bedeutung gibt, 6. durch die Iterität des Erzählens – nach außen und/oder nur nach innen – und durch die Prägnanz der Bedeutung, die dabei gestärkt wird, rückwirkend die moralische Identität und Kompetenz stützt oder verändert.
Unsere ersten moralischen Erfahrungen sind familiär. Durch Erinnerung verstärkt, ergreifen sie uns erst voll, wenn wir sie nicht mehr unmittelbar in der Begegnung mit anderen Menschen machen können. Die Erinnerung verschärft eine Anwesenheit, die im Leben zu schwach und zu wenig aufdringlich war:
Nicht alle Menschen haben die gleichen Erlebnisse, die durch wiederholte Erinnerung, durch Selbsterzählung in der Aneignung mit Worten, die uns bedrängen, bei uns als bleibende Erfahrung ankommen. Das eigene Tun und das eigene Selbst getrennt zu sehen, sind wir gewohnt, ohne es so recht zu bemerken. Dadurch treten wir in Spannung zu unserem Tun, distanzieren uns, kehren zu uns zurück, uns bejahend und verneinend, uns bestätigend oder bereuend. Diese Erfahrung mit uns selbst ist eine moralische Erfahrung. Eine überlegte Selbstdistanz ermöglicht den Blick auf Gut und Böse, auf Richtig und Falsch, auf die grundlegenden moralischen Entscheidungen. Unser Ziel ist dabei, die Selbstachtung aufrechtzuerhalten, auch unter ungünstigen Bedingungen den Maximen, die wir für richtig halten, zu folgen.
Die moralische Erfahrung kann auch eine Gotteserfahrung sein. Gott ist der Ort unserer stärksten Bindung, die Abhängigkeit, ohne die wir nicht frei zu fühlen glauben, die Geborgenheit, die wir uns als Herkunft und Ziel wünschen. Die Gotteserfahrung steht dann im Zusammenhang mit der Erfahrung der moralischen. Verantwortung, die sich an der Unausweichlichkeit des anderen und/oder an der Selbstachtung orientiert Denn Gott ist eingebunden in die Frage, die der andere an uns in der Endlichkeit und Begrenztheit seines Lebens stellt. Die Frage „Wo ist Gott?“ wird beantwortet: im Antlitz des anderen, und zwar in dessen leiblich begrenzten, individuellen Antlitz, wo Barmherzigkeit gefordert ist und wo Gerechtigkeit geschuldet ist. Sie wird aber auch beantwortet durch die Erfahrung: „in unserem Herzen“, eine Antwort, für die religiös orientierte Autoren wie Meister Eckhart, Nikolaus Cusanus und Blaise Pascal unterschiedliche Zeugenschaft und spekulative Gedanken beigetragen